Das erotische Leben der Diagramme
Von Michael Huber
Die Darstellungsform des Diagramms ist in ihre barocke Phase eingetreten. Diese Erkenntnis beschleicht einen nicht nur angesichts der immer komplexeren Power-Point-Präsentationen, die in Konzern-Chefetagen und Geheimdienst-Briefings die Köpfe rauchen lassen, sondern auch angesichts des Erfolgs, den die Künstlerin Jorinde Voigt derzeit genießt.
Auf der Messe „Art Basel Miami Beach“, die heute, Donnerstag, bis Sonntag läuft, ist Voigt ebenso vertreten wie in einer eigenen US-Museumsschau. Die bisher größte Solo-Präsentation der 1977 geborenen Künstlerin aber läuft bis 21. Februar in der Kunsthalle Krems – Ex-Direktor Hans-Peter Wipplinger, der heute sein Programm für seine neue Wirkungsstätte im Wiener Leopold Museum präsentiert, konnte Voigt vor dem Höhenflug rechtzeitig verpflichten.
Romantik und Analyse
Die retrospektiv angelegte Kremser Schau ermöglicht es, Voigts Entwicklung von den relativ einfach strukturierten Erstlingswerken bis zu den jüngsten, üppigen Arbeiten auf die Spur zukommen. Zugleich dürfen einige Barrieren fallen: Denn die konzeptuelle Strenge und Theoriebewusstheit, die nicht zuletzt auch in den begleitenden Katalogtexten zelebriert wird, kann die spielerische Qualität von Voigts Arbeiten letztlich nicht im Zaum halten.
Voigt knüpft an vieles an, was von Avantgardebewegungen vor ihr bereits ausformuliert wurde: Etwa an die grafische Notation von Musikstücken, wie sie etwa bei John Cage oder Nam June Paik begegnet, oder an die Praxis der Konzeptkunst, zunächst einige Parameter für einen Prozess festzulegen und dann zuzusehen, was passiert.
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum diese Kunst in einer Zeit, in der das Leben durch unsichtbare Algorithmen erfasst und gesteuert wird, einen Nerv trifft: Voigt macht Abläufe sichtbar, macht sie formbar und lädt sie mit Poesie auf. Die Balance zwischen Analytik und Poetik ist allerdings sensibel, und in Voigts jüngsten Arbeiten – dekoriert mit Blattgold und Gänsefedern – scheint das Rokoko-Element schon überhand zu nehmen.
Die EVN-Sammlung
Um einiges nüchterner, dabei nicht weniger zeitgemäß, wirkt die Ausstellung „Now, At The Latest“, die einen Großteil des Obergeschoßes der Kunsthalle einnimmt. Hier präsentiert sich die Sammlung des niederösterreichischen Energieversorgers EVN, die heuer ihr 20-jähriges Bestehen feiert; ein fünfköpfiges Gremium schlägt dabei regelmäßig Werke zum Ankauf vor. Für die Kremser Präsentation suchte man vorrangig Videos und andere Werke aus, die in den Firmenräumlichkeiten des Konzerns in Maria Enzersdorf selten gezeigt werden können, erklärt Kuratorin Brigitte Huck.
Man könnte angesichts der Mehrfach-Funktionen von Künstlern und Kuratoren natürlich „Insiderhandel“ wittern – doch am Ende überzeugt die Präsentation durch ihre Stimmigkeit.
Die EVN-Kunstaktivitäten haben – anders als etwa die Kunstsammlung des „Verbund“ – keinen streng definierten Schwerpunkt, sie ergeben sich im Dialog von Künstlern und Experten und zeigen nicht zuletzt auch die Spuren der Programme vieler angesehener Wiener Galerien. Im Bestreben, aus der Welt so etwas wie Sinn und Relevanz zu destillieren, trifft sich die EVN-Schau auch mit dem Werk von Jorinde Voigt: Die Kunst wird sich nie mit einfachen Diagrammen begnügen können, alles fließt, dreht und verändert sich.
Infos
Die Ausstellung "Jorinde Voigt - Now“ ist bis 21. Februar in der Kunsthalle Krems zu sehen. Der opulent gestaltete Katalog ist im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen (272 Seiten, 29 €). www.jorindevoigt.com
„Now. At The Latest“ Die Präsentation von Werken aus der EVN-Sammlung läuft ebenfalls bis 21.2.2016. Der Katalog „evn collection 1995 – 2015. Jubilee“ erschien im Verlag Moderner Kunst (30 €). www.kunsthalle.at