Kultur

Cannes: Kein Happy End in Sicht

Es gibt Fragen, die Michael Haneke nicht beantwortet. Schon gar nicht solche, die nach Erklärungen seiner Filme suchen. Bei der Pressekonferenz in Cannes, die anlässlich der Premiere zu Hanekes kühlem Familienporträt "Happy End" stattfand, versucht es ein Journalist trotzdem: Was es zu bedeuten habe, wenn bei einer eleganten Hochzeitsgesellschaft plötzlich afrikanische Flüchtlinge auftauchen?

Doch damit ist er bei dem österreichischen Regisseur an der falschen Adresse: "Es ist Ihre Sache, das herauszufinden", sagt Haneke dezidiert. "Ich liefere Hinweise, aber keine Interpretationen."

Dass seinem "Happy End" aber eine gewisse Bitterkeit zugrunde liege, das gibt selbst Haneke zu: "Es ist irritierend, wie autistisch und selbstbezogen wir in vieler Hinsicht leben."

Wie oft in seinen Filmen, seziert Haneke in seinem beim Publikum verhalten aufgenommenen Wettbewerbsbeitrag "Happy End" das Beziehungsgefüge einer großbürgerlichen Familie, diesmal in Calais. Ähnlich wie in "Amour", steht Jean-Louis Trintignant als alter Patriarch mit Todessehnsucht im Zentrum der Familie. Seine Tochter – die formidable Isabelle Huppert – führt ein Bauunternehmen, sein Sohn (Mathieu Kassowitz als untreuer Ehemann) arbeitet als Arzt.

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Gerade ist seine Teenage-Tochter aus erster Ehe eingezogen: Ein undurchschaubares Mädchen, das mit seiner Handy-Kamera andere Leute filmt und eine zaghafte Beziehung zu ihrem Großvater knüpft. Alle Familienmitglieder kreisen ununterbrochen um sich selbst, Realpolitik wie etwa die Flüchtlingskrise interessiert niemanden. "Tagtäglich werden wir mit Informationen überflutet und trotzdem sind wir taub und blind", beklagt Haneke den Status quo unserer Gesellschaft: "Eigentlich haben wir keine Ahnung davon, was wirklich vorgeht."

Auch seine Figuren in "Happy End" verharren im Gefängnis ihrer Empathielosigkeit: Die Wirklichkeit wird nur noch durch die Handy-Linse gefiltert wahrgenommen, Beziehungen manifestieren sich im Internet. Hanekes Beobachtungen zeugen von präziser Zeitgenossenschaft und greifen dabei auf Themen seiner früheren Filme zurück. Er liefert eine scharfsichtige Bestandsaufnahme, ohne sie aber letztlich weiter (oder weit genug) zu treiben.

Diese Aufgabe, so scheint es, hat der Grieche Yorgos Lanthimos übernommen. Und es ist sicher kein Zufall, dass sich viele Zuseher von seinem sardonischen Wettbewerbsbeitrag "The Killing of a Sacred Deer" an Hanekes Gewaltstudie "Funny Games" erinnert fühlten.

Opfer

Lanthimos, ein Stammgast in Cannes und zuletzt mit der Liebes-Farce "The Lobster" im Wettbewerb von 2015, hat seinen radikal-zynischen Blick noch einmal schärfer gestellt. Ähnlich wie Haneke mit Isabelle Huppert, greift auch er immer wieder auf dieselben Schauspieler zurück. In "The Killing of a Sacred Deer" ist es erneut Colin Farrell, der die Rolle eines Prototypen im Lanthimosschen Welttheater übernimmt. Als emotionstoter Karrierebürger, dessen Leben auf der Kippe steht, zementiert er das Fundament seiner Existenz neu – und bringt dafür ein unglaubliches Opfer. Was es bedeutet, wenn sich die zivilisatorischen Verträge unserer Gesellschaft auflösen, erzählt Lanthimos als gefühlskalte griechische Tragödie im Gewand eines Horror-Films.

Colin Farrell spielt einen erfolgreichen Chirurgen, der einen tödlichen Fehler begangen hat. Nun steht seine gesamte wohlige Bürgerlichkeit – inklusive Luxushaus und Vorzeigefamilie – auf dem Spiel. Er muss Buße tun, und das ist nur möglich, wenn er etwas opfert – ähnlich wie Abraham in der Bibel.

Lanthimos entzieht seinen Schauspielern gänzlich ihre psychologischen Tiefen. Umso besser passt die maskenhafte Nicole Kidman als Ehefrau zu Farrell und seinen reflexhaften Instinkten: Wenn sie mit ihrem Mann Sex hat, legt sie sich ins Bett und lässt den Kopf über die Kante hängen wie ein Unfallopfer.

Bürgerliche Kälte – bei Haneke Mitleidslosigkeit, bei Lanthimos Mord. Und kein Happy End in Sicht.

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