Leila Slimani im "Land der Anderen": Orangenbaum mit bitteren Zitronen
Von Peter Pisa
Wo in Marokko der Boden steinig ist, südlich von Meknès, und bestenfalls Zwergpalmen gedeihen, pflanzen Vater und Tochter ein Orangenbäumchen.
Der Stamm wird eingeritzt und ein Zitronenzweig vorsichtig hineingeschoben, dann festgebunden und mit Wachs versiegelt.
Die Tochter nennt die Mischung einen „komischen Zitrangenbaum“.
Es ist widerstandsfähig.
Aber die Frucht ist bitter.
Damit ist schon alles erzählt. Fast alles. Vieles.
Brodelt bitter
„Das Land der Anderen“ ist eine Familiensaga 1945 bis 1956. Sie geht über drei Generationen. Zwei Teile über die Zeit bis 2015 folgen.
Bisher blieb Leïla Slimani – eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen Frankreichs, Foto oben – mit ihren Romanen in Paris: bei einer Nymphomanin in „All das zu verlieren“, bei einer mordenden Babysitterin in „Dann schlaf auch du“.
Slimani ist in Marokko geboren, und dort geht sie jetzt hin – mit zwei Verliebten, die in Frankreich geheiratet haben: Mathilde, groß und blond, aus dem Elsass – Amine, klein und dunkel aus Marokko. Er hatte für Frankreich als Soldat der Kolonialarmee gegen Deutschland gekämpft.
1948 ziehen sie in seine Heimat, auf einen Bauernhof, den Amine geerbt hat. Nichtsahnend, dass er in der trockenen Region liegt. 1 Jahr Heuschrecken, 1 Jahr kein Regen.
Mathilde und Amine und Töchterchen Aïcha sind widerstandsfähig.
Aber sie könnten verbittern. (Zitat: „Es brodelt Bitterkeit.“)
Verschiedene Realitäten werden aneinandergebunden; und es bleibt immer das Land anderer:
Über Mathilde sagen die Marokkaner: Sie ist nicht von hier. Über Amine sagen die Marokkaner: Er ist ja ein halber Franzose. Die elitären Franzosen in Marokko sagen: Mathilde und Amine gehören nicht zu ihnen, sie sind Bauern.
Nonstop
Sie gehören zu keinem Lager – 1956 wurde das Land unabhängig –, sie sind ... Zitrangen.
Dazu kommt noch: Amine fühlt sich zwar liberal, und die Damenunterwäsche schaut er sich in den Geschäftsauslagen im europäischen Viertel der Hauptstadt Rabat gern an.
Aber wehe, wenn sich seine Schwester mit einem Franzosen Arm in Arm fotografieren lässt! Hat er vergessen, dass seine Frau Französin ist? Seine Pistole muss man verstecken. Die Zwangsheirat der Schwester ist schnell organisiert.
Ein Drama ohne Pausen.
Leïla Slimani bringt sympathische und unsympathische Momente nonstop. Perspektiven werden gewechselt, man ist manchmal außen als Beobachter, oft schaut man sich gewissermaßen das Beben im Inneren an – wenn jemand wütend ist, wenn jemand traurig ist.
Angeblich werden sich irgendwann die Orangen durchsetzen. Aber wer sind die Orangen? (Und warum?) Fortsetzung nächstes Jahr.
Leïla Slimani: „Das Land der Anderen“
Übersetzt von
Amelie Thoma.
Luchterhand
Verlag.
384 Seiten.
22,90 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern