Javier Marías (1951 – 2022): Sein letzter Roman ist der beste
Von Peter Pisa
Sein letzter Roman, wie immer etwas arrogant (sogar in der Danksagung am Ende), wie immer unter dem Motto: Ein Zeichen gegen die zunehmende Infantilität.
Spanische Literaturkritiker haben recht: Der letzte ist sein bester Roman.
Zu Beginn meldet sich ein Mann namens Tomás Nevinson – man könnte ihn aus Javier Marías’ vorigen Roman „Berta Isla“ kennen (aber seine Bücher nach „Mein Herz so weiß“ hatten im deutschsprachigen Raum nicht mehr so viel Leser). Dieser Nevinson erzählt eine wahre Geschichte:
In München, in der Osteria Bavaria, sitzt Redakteur Reck-Malleczewen, da setzt sich Hitler an den Nachbartisch. Hitler hatte keine Schlägertruppe mit. Reck-Malleczewen hatte, die Zeiten waren unsicher, eine Pistole in der Tasche.
Hätte er 1932 geahnt, dass Hitler die Hölle entfesseln wird – ohne zu zögern hätte er ihn erschossen. (Notierte er 1938 in sein Tagebuch.) Aber er hielt Hitler für eine Witzfigur.
Reck-Malleczewen kam im KZ Dachau ums Leben.
Das ist es, was uns im Buch, das auch ein Spionageroman ist, ständig verfolgen wird: Darf man Verbotenes tun, um das Böse zu bekämpfen? Sollen wir töten, um uns sicherer zu fühlen?
Drei Frauen
Romanfigur Tomás Nevinson, halb Spanier, halb Engländer, erzählt einen Lebensabschnitt. Und diskutiert mit uns Moralisches. Er war Spion mit Lizenz zum Töten.
„Berta Isla“ war das – streckenweise langweilige – Buch seiner Ehefrau. Sie dachte, Tomás sei tot. Er musste sich verstecken.
Nach zwölf Jahren kehrt er nach Madrid zurück – und lässt sich gleich wieder auf einen Mordauftrag des britischen Geheimdienstes ein.
Nevinson soll sich in der Provinz drei Frauen näher anschauen. Es wird vermutet, dass eine von ihnen – mit neuer Identität – in die Planung von mörderischen Anschlägen der ETA verwickelt war. Er soll die Richtige finden und zu einem langen Geständnis bewegen. Oder sie liquidieren.
Eine einsame Restaurantbesitzerin. Eine fröhliche Lehrerin. Die unglückliche Ehefrau eines tyrannischen Reichen.
Er mochte sie alle. Spielen wir durch: Wenn Nevinson nichts herausfindet? Wenn sein Chef daraufhin sagt, er soll alle töten? Wenn er sich weigert? Aber wenn dann eine der Frauen untertaucht und neue Attentate verübt werden?
Womit wir wieder bei Hitler 1932 sind. Wenn man Gewissheit hätte ... Es gibt so selten Gewissheit.
Guter Stoff für Javier Marías, um – am besten mit uns gemeinsam – zu philosophieren. Kräftige, tiefgehende Literatur. Literarisches Nachdenken. Zwischendurch ist der Roman erotisch, und dann geht das schon, dass er so gescheit ist. Höchstwertung.
Javier Marías: „Tomás
Nevinson“
Übersetzt von
Susanne Lange.
S. Fischer Verlag.
736 Seiten.
33,50 Euro
KURIER-Wertung: *****