Jack the Ripper ist zum Vergessen
Von Peter Pisa
Noch etwas ist merkwürdig in der Welt: Seit 130 Jahren fasziniert Jack the Ripper; ein unbekannt gebliebener Frauenmörder. Dass er seine fünf Opfer in London 1888 aufschlitzte und vier von ihnen Organe herausschnitt, löste Rummel aus.
Keine Trauer.
Die Frauen bekamen einen Nebensatz ins Grab, nämlich: Sie seien einfach nur Prostituierte gewesen.
So wurden sie als „schlechte Frauen“ abgelegt, während der Mythos des Serienmörders fortgeschrieben wird: noch ein Film, noch eine TV-Serie, Computerspiele, Romane, Musicals.
Jack the Ripper war vielleicht selbst eine Frau? Nein, deutscher Matrose. Nein, polnischer Barbier.
130 Jahre dauerte es, bis eine Historikerin – Hallie Rubenhold aus Los Angeles, zurzeit in London wohnhaft – den Ermordeten ihre Namen zurückgegeben hat. Und ihre Würde. Ihnen widmet sie das Buch „The Five“:
„Polly“ Nichols
Annie Chapman
Elizabeth Stride
Catherine Eddowes
Mary Jane Kelly
Im Schlaf
Man ging bisher davon aus, sie suchten nachts in den damals elenden Straßen des Stadtteil Whitechapels nach Kundschaft.
Niemand kam bisher auf die Idee – die nahe liegende Idee, denn es gab nie einen Kampf –, dass die obdachlosen Opfer geschlafen haben. Dass sie im Schlaf umgebracht wurden. Vier von ihnen auf der Straße, eine im Bett. Bei drei gibt es überhaupt keine Hinweise, dass sie auf den Strich gegangen sind. Alle fünf waren vor allem eines: arme Teufel.
Als „Polly“ Nichols nach 16 Ehejahren merkte, dass ihr Mann ein Verhältnis mit der Nachbarin hatte, lief sie aus der Vier-Zimmer-Wohnung davon.
Nicht daran denkend, dass in viktorianischer Zeit nur das Armenhaus blieb oder ein Ort wie der Trafalgar Square, wo ums Nelson-Denkmal Hunderte die Nächte verbrachten. In der Früh kamen die Sozialisten und sangen und demonstrierten gegen die Ausbeuter.
Als Annie Chapman, auf dem Weg von der Arbeiter- zur Mittelschicht, ihre Tochter verlor (Gehirnhautentzündung), als auch ihr Ehemann (Kutscher im Dienste der Aristokratie) starb, ging sie am Alkohol zugrunde.
Sie hätte bei ihrer Mutter unterkommen können.
Sie genierte sich.
In der Dorset Street, der städtischen Kloake zum Versinken, wo man auf Regen hoffte, der die in den Hof geleerten Toilettenkübel wegschwemmte ... in dieser „schlimmsten Straße Londons“ fand sie eine Bleibe und verkaufte Streichhölzer.
Die fünf Lebensgeschichten ähneln einander.
„Gute Sache“
Hallie Rubenholds Spezialgebiet ist Sozialgeschichte. Jedes Porträt ist auch das Porträt der Stadt der Elenden.
Schon Jack London war entsetzt, als er ein Armenhaus betrat, in dem sich 23 Männer hintereinander im selben Wasser wuschen.
Er hatte nichts zu jener Literatur beigetragen, die das Empire glorifizierte.
Und was bitte heißt Prostitution? Männer, die nachher Jack the Ripper für seine Taten beglückwünschten („gute Sache, dass die Frauen diesem chirurgischen Genie über den Weg gelaufen sind“, Leserbrief in The Times), köderten Obdachlose mit einer kleinen Mahlzeit, wenn sie ihnen kurz gefällig waren.
Hallie Rubenhold: „Die Opfer von Jack the Ripper waren nicht ,einfach nur Prostituierte’, sie waren Töchter, Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Geliebte. Sie waren Frauen. Sie waren menschliche Wesen – als wäre das nicht genug.“
Behandelt man Polly, Annie, Elizabeth, Kate und Mary Jane mit Achtung und Mitgefühl, kann man Jack the Ripper und alles, was er darstellt vergessen.
Wäre höchste Zeit.
Die Fotografie oben, aufgenommen vor der Hochzeit, zeigt das spätere Opfer Annie Chapman und John im Jahr 1869
Gallie Rubenhold: "The Five"
Übersetzt von Susanne Höbel. Verlag Nagel & Kimche. 424 Seiten. 24,70 Euro
KUZRIER-Wertung: **** und ein halber Stern