Bernardine Evaristo: Alte Knacker vor dem Abgrund
Von Barbara Beer
Dienstags denkt Morris, es sei Donnerstag. Er verwechselt das Bad mit dem Schlafzimmer und redet seinen Ältesten mit dem Namen des Jüngsten an. Morris ist ein alter Knacker. Ein Saufbold obendrein. Er war schon immer Barrys Sorgenkind. Und er war vor allem: Barrys große Liebe.
Geheiratet hat Barry allerdings Carmel. Ist mit ihr von Antigua nach London ausgewandert, wo Morris, Mädchenschwarm und Boxchampion (heute geht er zum Rentner-Pilates), auf ihn wartete. Carmel, frustriert und kirchenhörig, ahnt, dass Barry sie betrügt, aber nicht, mit wem. Sie fragt ihn seit Jahrzehnten verzweifelt nach seinen „Flittchen“.
Sechzehn war sie, als sie und Barry geheiratet haben. Er war anders als die anderen. Ein Gentleman, hat sie nie begrapscht. Es gab damals noch einen anderen Verehrer für die hübsche Carmel. Der sei, sagt Barry, eher wie James Stewart gewesen. Er, Barry, war wie Rock Hudson.
Dass Rock Hudson Männer liebte, erfuhr die Welt erst, als er 1985 an Aids starb. Dass Barry und Morris einander lieben, weiß die Welt heute noch nicht. Barry und Morris üben sich seit Jahrzehnten „in der Kunst des Normalseins“. Ehe, Kinder: alles, wie es sich gehört. Man hat den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entsprechen. Als karibischer Mann keine Familie zu gründen, das ging in den 1950ern einfach nicht. Und: „Die Wahrheit ist, wir wollten damals beide anders sein, als wir waren.“ Homo? „Höchstens Sapiens!“
Doch jetzt, mit 74? Was würde passieren, wenn sie sich ihrer Lebenslüge stellen würden? „Die Jahre, die mir noch bleiben, will ich mit Morris verbringen“, sagt Ich-Erzähler Barry, der es bisher nicht übers Herz gebracht hat, „seine Mädchen“ zu verlassen und sein Doppelleben zu beenden. Denn da ist die Bequemlichkeit. Das Haus. Die Töchter, die gute Küche seiner Frau. Das Leben, das er sich eingerichtet hat. Und da ist auch die Angst. „Ich weiß nicht, ob ich mit dir in diesen tiefen Abgrund gesellschaftlicher Ächtung springen kann,“ sagt er zu Morris.
Schön wie Clooney
Bernardine Evaristo erzählt in „Mr Loverman“ die Geschichte einer schwierigen Liebe, die auch im Laufe der Jahre, als Homosexualität mehr Akzeptanz findet, nicht einfacher wird. Schließlich ist auch das Unglück ein treuer Begleiter, von dem man sich so leicht trennt. Die schnoddrige Sprache und der trockene Humor machen den Roman umso berührender.. Dabei sind seine Helden keine Engel: Der zu einem kleinen Vermögen gekommene Immobilienunternehmer Barry ist trotz allem ein Kind seiner Zeit, ein ziemlicher Macho. Hat Angst vor „Schwuleritis“, findet allerdings, dass Männer „einfach besser altern als Frauen“. George Clooney und er zum Beispiel. Als er sich zum ersten Mal nach Jahrzehnten des Versteckens traut, mit seinem Liebsten öffentlich Händchen zu halten, landen die beiden in einem Londoner Schwulen-Pub, wo Barry argwöhnt, dass ein LGBTQ-Aktivist „endlos davon schwafelt, dass Jesus eine afrikanische Lesbe war.“
Einwanderer-Leben, homosexuelle Liebe, Feminismus und der Wunsch nach Selbstbestimmung sind Themen, die auch Evaristos 2022 erschienene Autobiografie „Manifesto“ prägten. 1959 als Tochter einer Britin und eines Nigerianers in London geboren, wurde Evaristo für ihren Roman „Mädchen, Frau etc“ 2021 als erste schwarze Schriftstellerin mit dem Booker Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. „Mr Loverman“ ist um nichts weniger preiswürdig.