Kultur

Im langen Schatten der Vergangenheit

Zur Halbzeit der Berlinale hat sich noch kein Film so richtig bärenstark empfohlen. Zu den bei den Kritikern bislang beliebtesten Arbeiten zählen Wes Andersons "Grand Budapest Hotel" und das intensive IRA-Drama "’71" des Briten Yann Demange. Der deutsche Beitrag "Die geliebten Schwestern" von Dominik Graf – eine Dreiecksgeschichte mit Friedrich Schiller – liegt im guten Mittelfeld.

Was den österreichischen Wettbewerbsfilm von Sudabeh Mortezai betrifft, der am Freitag läuft, darf man gespannt sein: "Macondo", der Geschichte eines tschetschenischen Flüchtlingskindes in Wien-Simmering, eilt bereits ein hervorragender Ruf voraus. Der Film sei gut, weiß selbst eine Dame vom Filmfestival Seattle. Und das Berliner Stadtmagazin Tip räumte "Macondo" blind 80 Prozent Gewinnchancen ein.

Was die angekündigten Skandale betrifft, haben sie sich nicht eingestellt. Lars von Triers Sex-Aufreger "Nymphomaniac Volume I" erwies sich als komplexes Thesenkino und nicht als glitschiger Porno. Und an der Stelle des Regie-Exzentrikers spielte Hauptdarsteller Shia LaBeouf den Klassenkasperl auf der Pressekonferenz.

Das sind übrigens auch jene Momente, bei denen man den Eindruck bekommt, die Berlinale würde aus allen Nähten platzen. Saalordner drängen Journalistenmassen zurück, die einen Platz in der Nähe eines Stars suchen – oder auch nur einen Computer zum Schreiben. Wer sich einen Film bis zum Ende ansieht und erst danach zur Pressekonferenz wandert, ist selbst schuld. Denn dann ist der Saal bereits rappelvoll. Die ganz Schlauen haben schon lang vor Ende eines Films das Kino verlassen – oder sind gar nicht erst hingegangen. Denn um George Clooney mitzuteilen, dass er der Traum aller mexikanischen Frauen ist, muss man keinen Film gesehen haben.

Wirklich schöne und innige Momente eröffnen sich dann auch oft in den Nebenschienen: Ein Nostalgiefest für Musikfans bot eine stimmungsstarke Doku über den charismatischen Sänger Nick Cave. In "20.000 Days on Earth" zelebrierte der Musiker seinen Star-Mythos und bot im Gespräch mit einem Therapeuten überraschende Einblicke in seine Kindheit.

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Ebensee in Berlin

Auch österreichische Gegenwart entfaltete sich eindrucksvoll auf der Berlinale – etwa bei der Premiere von Sebastian Brameshubers feiner Doku "Und in der Mitte, da sind wir". Als Anlass für seine Arbeit nahm der Regisseur jugendliche Störaktionen während KZ-Gedenkfeiern in Ebensee. In Interviews und Alltagsbeobachtungen bemüht er sich um eine genaue Auslotung jugendlicher Befindlichkeit zwischen Skinhead und Punk. Als danach ein deutscher Besucher erzählte, dass er selbst nach Ebensee gereist war, um seines ermordeten Vaters zu gedenken, war dies ein besonderer Moment der Berührung – zwischen Jetzt und dem Schatten der Vergangenheit.