Kultur

"Babylon": Urgewalten, die toll unterhalten

Die Aufregung der letzten Wochen war groß. Im KURIER-Interview hatte Münchens Opernintendant Nikolaus Bachler der Stadt Wien sinngemäß zu wenig kulturelle Strahlkraft vorgeworfen. Bei ihm an der Isar sei das anders. Ein Lokalaugenschein bei der ersten Premiere an der von Bachler geleiteten Bayerischen Staatsoper beweist: In München hat man zumindest extrem viel Mut.

Denn es ist keineswegs selbstverständlich, die neue Spielzeit mit einer Uraufführung zu eröffnen. Noch dazu mit einem Werk, zu dem Philosoph Peter Sloterdijk das Libretto verfasst hat. Kopflastiges, Sperriges, Herausforderndes war da zu erwarten. Ja, diese Erwartungen wurden erfüllt, aber auch großartig gebrochen. Dank der Musik von Jörg Widmann sowie der grandios-opulent-einladenden Umsetzung durch Carlus Padrissa von "La Fura dels Baus".

Tausende Ebenen

Doch worum geht es eigentlich in "Babylon"? Um viel, um sehr viel, mitunter zu viel. Da gibt es zum einen die Liebesgeschichte zwischen der Babylonierin Inanna (die Göttin der Lust) und dem Juden Tammu, der dieser verfällt, dafür sein Volk und seine "Seele" verlässt. Es geht aber auch um Aufbau und Zerstörung Babylons, um fallende Türme, über die Ufer tretende Flüsse (Euphrat), um himmlische Plagen, um Tag und Nacht, Mensch und Gott, wütende Schöpfer und religiöse Diskurse. Und um Peter Sloterdijks philosophisch-aktuelle Deutungen all dieser mythischen Dinge.

Es ist der Musik Jörg Widmanns zu danken, dass sich all diese Ebenen musikalisch zu einem großen Ganzen fügen. Denn Widmann hat ein faszinierendes, vielschichtiges Werk geschaffen. Widmann erlaubt sich feine Duette, oratorienhafte Stellen, Koloratur-Eskapaden, Crescendi, zarte Stimmungsbilder, jazzige Einschübe bis zu Kinderliedern wie "Wer hat die Kokosnuss geklaut?" oder dem Bayerischen Defiliermarsch. Dass es auch atonale Momente gibt, versteht sich. Widmanns Musik aber bildet ein wunderschönes Gegengewicht zur Gedankenschwere des Textes.

Tausende Bilder

Gleiches gilt für die Regie. Denn was Carlus Padrissa und sein Team (Bühne: Roland Olbeter, fantasievoll die Kostüme: Chu Uroz, Licht: Urs Schönebaum und vor allem die Video-Künstler von welove­code/Tigrelab) aufbieten, ist sensationell. Alles dreht sich, bewegt sich, wird mit Video-Projektionen optisch aufgemotzt. Padrissa schafft magische Momente und ein riesiges Spektakel – der Schauwert ist sensationell. Wie auch Dirigent Kent Nagano, das Orchester der Bayeri­schen Staatsoper samt Chor zur Höchstform auflaufen.

Die Sänger? Anna Prohaska ist als Inanna ein vokales wie optisches Ereignis. Jussi Myllys (Tammu), Claron McFadden (Seele), Kai Wessel, Willard White, Gabriele Schnaut und Schauspieler August Zirner erfüllen ihre Partien mit Seele. Ein echtes Gesamtkunstwerk.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Fazit: Bildgewaltig, packend und überbordend

Komponist Jörg Widmann (geboren 1973) ist auch Klarinettist und zählt zu den bedeutendsten Komponisten der Gegenwart. Er war Schüler von Hans Werner Henze, dem die Uraufführung gewidmet war.

Musik Insgesamt grandios. Ein paar Längen sind verzeihbar.

Libretto Will viel, oft zu viel.

Umsetzung Musikalisch, szenisch, gesanglich sensationell.

Reaktionen Jubel für alle Beteiligten. Nur Sloterdijk wurde auch mit lauten Buhs bedacht.