Akademietheater: Ein Requiem für den verrückten Ignaz
Von Thomas Trenkler
Ignaz Kirchner, vor einem halben Jahr, am 26. September 2018, mit 72 gestorben, hatte die Angewohnheit, in Notizbücher all das zu schreiben und zu kleben, was ihm irgendwie bemerkenswert erschien. Im Laufe der letzten vier Jahrzehnte entstanden, so Joachim Meyerhoff, mehr als 280 „Klebebücher“, wie er sie nennt – voll mit Fotos aus Illustrierten, mitunter treffend kommentiert, mit Gedichten, Texten, Briefen.
Zumeist verwendete der Schauspieler, der zornig sein konnte wie kaum ein anderer und die Sätze im Mund zermahlte, bevor er sie ausspuckte, chinesische Notizbücher: schwarz eingebunden, mit roten Ecken. Die Farben standen für ihn: Er trug immer Schwarz, ergänzt um einen roten Tupfer.
Im Wahnsinnstempo
Mit Kirchner, 1987 vom damaligen Direktor Claus Peymann an die Burg geholt, arbeitete Meyerhoff mehrfach zusammen – und die beiden wurden, auch wenn sie sich nie privat getroffen hätten, Freunde. Weil er sich, so Meyerhoff, nicht sattsehen konnte an den „Klebebüchern“, habe ihm Kirchner vier geschenkt. Und nach dessen Tod stellte die Witwe alle weiteren zur Verfügung: für eine Hommage auf den kauzigen Schauspieler, der sich „der verrückte Ignaz“ nannte, obwohl sein eigentlicher Vorname Hanns-Peter war.
Am Freitagabend brachte Meyerhoff das „Projekt“ unter dem eilig fixierten Titel „Land in Sicht“ – inspiriert vielleicht vom Roman „Robinson Crusoe“, den er mit Kirchner dramatisierte, oder von Rio Reiser – im Akademietheater zur eifrig bejubelten Uraufführung. Es schließt fast nahtlos an den Performance-Marathon „Alle Toten fliegen hoch“ an. Den sechsteiligen Zyklus, danach als Tetralogie erschienen, wollte Meyerhoff nicht fortsetzen, weil er einen Abschnitt in seiner Biografie erreicht habe, der zu nah in die Gegenwart reiche. Doch nun fand er eine Möglichkeit: indem er sich mit Kirchner auseinandersetzt – und dabei eigentlich dauernd, jedenfalls bis zur Pause, über sich spricht. Das kann man eitel finden. Oder hinreißend.
Meyerhoff monologisiert im Wahnsinnstempo, die Anekdoten sprudeln nur so heraus. Er erzählt, wie die „Klebebücher“, sorgfältig in vier Kartons verpackt, in Wien eintrafen. Er stellt den Moment nach, als er sie öffnete, und er räsoniert über die Sujets, die Kirchner sammelte, darunter Fotos mit Körperhaltungen, die ihm als Anregung gedient haben könnten. Doch das Geheimnis lüftet Meyerhoff nicht, noch nicht. Er erzählt, wie er ans Burgtheater kam, wie er als Ersatz für Gert Voss den Mephisto spielte, und mit Genuss ätzt er über die Streitereien der Stars um die sogenannte Einsergarderobe. Ignaz Kirchner hingegen hätte sich immer mit dem Kammerl für die Statisten begnügt.
Latte, hoch gehängt
Während Meyerhoff an der Rampe „weiter, immer weiter“ hastet, werken im Hintergrund zwei Bühnenarbeiter: Fabian Krüger und Mirco Kreibich brillieren mit Slapstick à la Stan Laurel und Oliver Hardy, sie prügeln sich, sie drohen von der schwankenden Hebebühne zu stürzen oder verheddern sich kopfüber mit dem Fuß im Stromkabel. Und sie hängen die Latte extrahoch: Mitunter fragt man sich, ob der Irrwitz abgesprochen ist, oder ob es vor allem darum geht, Meyerhoff aus der Fassung zu bringen.
Kirchner jedenfalls liebte Clowns. Und Laiendarsteller und... So hat alles, was Jenny Schleif (Bühne) und Dagmar Bald (Kostüme) beitragen, mit ihm und seinen Notizen zu tun. Viel Aufwand: Das habe Kirchner gefallen. Meyerhoff inszeniert also ein Spektakel samt Urnenwand auf Stromboli und einem halbstündigen Radrennen. Weiter, immer weiter!
Erst nach der Pause sitzt Meyerhoff über den ausgebreiteten Notizbüchern, er gewährt Einblicke, zu viele, zu intime. Aber die Dramaturgie verlangt den Lichtbildervortag – für ein berührendes Ende, das man mit eigenen Augen gesehen haben muss.