Wir bellen nur, wir beißen nicht
Von Barbara Beer
Dieser Tage soll es in unseren Herzen ja wieder warm werden und deshalb muss das Redaktionskomitee der Wiener Ansichten verspätet, aber doch, seinen Senf zu einer vor einigen Wochen ausgebrochenen Debatte dazugeben.
Es geht um die Sache mit der angeblich typisch Wienerischen Unfreundlichkeit. Um es kurz zu machen: Die Wiener sind nicht unfreundlich.
Aus jahrzehntelanger empirischer Sozialforschung weiß das Redaktionskomitee: Die Wiener sind einfach schüchtern. Sobald sie die Stadtgrenze überschreiten und ein Geschäft in einem niederösterreichischen Dorf betreten, wo sie sofort begrüßt und nach ihren Wünschen gefragt werden, sind sie verwirrt und wissen nicht, was sie antworten sollen, weil sie das nicht gewöhnt sind. Daheim in Wien haben sie viel länger Zeit zum Nachdenken.
Dass die Wiener schüchtern sind, lässt sich außerdem an ihrer liebsten Redefigur, der Litotes, ablesen. Das Wort Litotes kommt aus dem Griechischen und bedeutet Zurückhaltung. Als sprachliches Stilmittel wird es von so gut wie jedem Wiener eingesetzt, auch wenn so gut wie keiner das Wort kennt.
Dabei funktioniert die Litotes ganz einfach: Man stellt eine Behauptung durch ihre doppelte Verneinung auf.
„Ned ganz bled“ bedeutet also: gescheit. „Ned ganz schiach“ heißt so viel wie: schön.
Jetzt sagen Sie einmal zu einem Vorarlberger, dass Sie ihn „ned ganz bled“ finden. Er wird sich vermutlich nicht über dieses Kompliment freuen. Direkt wie der Alemanne eben ist, wird er glauben, Sie halten ihn zwar nicht für ganz blöd, aber doch für ein bisserl blöd, denn andernfalls hätten Sie ja gleich das Wort gescheit verwendet. Er weiß ja nicht, dass der Wiener nicht anders kann, als sprachliche Umwege zu nehmen.
Liebe Mitöstereicherinnen und Mitösterreicher, liebe Gäste: Wir meinen es gut mit euch. Wir können es nur nicht so direkt sagen. Unser vermeintlicher Grant ist ein Missverständnis.
Nur eine Bitte:
Grüßen Sie nicht zu freundlich, das verwirrt uns.
barbara.mader@kurier.at