Kolumnen

Soziale Reizüberflutung in Coronazeiten

Während alles den Bach runtergeht, gehen Daria und ich den Bach rauf. Das heißt nicht, dass wir gegen den Strom schwimmen, wir nehmen die Ausgangsbeschränkungen sehr ernst und verlassen immer nur allein mit Daria das Haus. Das allerdings mehrmals pro Tag. Denn alle wollen drankommen.

Mag sein, dass wir Menschen die Welt derzeit nicht wiedererkennen. Aber das ist noch gar nichts, verglichen damit, wie sich die Welt für Daria verändert hat.

An den ersten Tagen der Ausgangsbeschränkung fiel sie schon gegen 18 Uhr völlig erschöpft in Körbchen und Tiefschlaf. Zur abendlichen Gassirunde erwachte sie dann nur noch unter Aufbietung von Überschallweckrufen und kulinarischen Erpressungsversuchen.

Denn das sogenannte Social Distancing bedeutet für Daria die völlige soziale Reizüberflutung. Ihr sozial mehr als überschaubarer Alltag, den sie nur mit mir verbracht hat, existiert nicht mehr. Sozial überschaubar ist ihr Leben nur noch dann, wenn ihre vierköpfige Familie, die plötzlich wieder zusammenlebt, schläft. Und von Alltag kann keine Rede sein, weil hier jeden Moment irgendetwas Unvorhersehbares passiert.

Welt auf Werkseinstellung

Aber allmählich erkennt sie alte Muster wieder. Denn Darias Welt ist auf Werkseinstellung zurückgesetzt. Als sie 2011, wenige Wochen nach ihrer Geburt, zu uns kam, war es ähnlich laut hier, und die Belegschaft war dieselbe wie jetzt.

Mit den Jahren änderte sich viel. Die Kinder wurden groß und zogen aus. Daria und ich übersiedelten in eine kleine Wohnung. Unseren gemeinsamen Lieblingsmann sahen wir eine Zeit lang gar nicht, dann meist nur an den Wochenenden. Die Kinder kamen ab und zu zum Streicheln vorbei. Der Lieblingsmann drehte die eine oder andere Wochenendrunde mit ihr. Sonst herrschte Ruhe.

Aber jetzt sind alle da, jetzt ist Familie, und Daria ist der Mittelpunkt. Familie ist laut und oft Chaos und manchmal sogar Streit. Aber Familie ist lebendig. Und das ist im Moment das Wichtigste.

Wenn Daria und ich Ruhe brauchen, gehen wir zu zweit den Bach rauf. Zum duftenden Veilchenteppich. Von dort aus senden wir besonders all jenen, die unter Quarantäne stehen, allein oder gar krank sind, einen Veilchengruß von Herzen. Wir denken jetzt an Sie. Sie sind nicht allein!