Kolumnen

Hilfe, wir leben im Schlückchen-Zeitalter!

Die Hölle, welche  Ernährungsberater, Askese-Missionare und Wellness-Journalisten erwartet, stelle ich mir so vor: Man muss Schafgarbentee trinken, und zwar lauwarm, ungesüßt und schlückchenweise, bis in alle Ewigkeit. Hat man den pazifischen Ozean in Schafgarbenteeform schlückchenweise ausgetrunken, ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei.


Wir leben im Schlückchen-Zeitalter. Und im Schafgarben-Zeitalter. Und im Ungesüßt-lauwarm-Zeitalter. Der Glaube an die heilige Gesundheits-Religion hat uns gelehrt, ständig in uns hineinzuhorchen, ob sich da nicht ein verdächtiges Ziehen und Kribbeln, ein verzwicktes Fürzlein oder die ersten Symptome einer „Intoleranz“ regen. Und jetzt können wir das Leben nur noch lauwarm, ungesüßt und im Schlückchenformat verkraften. (Der große Menschenkenner Paul Watzlawick schrieb mit weisem Humor darüber, wie man sich praktisch jede Krankheit durch übergenaue Beobachtung der Körpervorgänge herbeikonstruieren kann.)

Muten wir uns darüber hinausgehende Geschmackseindrücke zu, werden wir  krank, müssen die TCM-Expertin oder den Darmyogaheiltanz-Schamanen aufsuchen, sonst versterben wir umgehend. Es soll auch schon Menschen geben, die außer Schafgarben nichts mehr zu sich nehmen, da sie auf alles andere mit nässenden Ausschlägen reagieren. Sind sie dennoch gezwungen, etwas Normales zu essen, müssen sie vorbeugend drei Wochen in Gesprächstherapie.

Langsam, aber sicher, gehen wir selber in Schafgarbenform über, werden lauwarm und geschmacksarm und sind nur noch schlückchenweise genießbar.

Man soll ja das Jahr nicht vor dem Dezember loben, aber bis jetzt benimmt sich 2019 vorbildlich. (Weiter so, so können wir arbeiten!). Und ich habe definitiv keine Lust, dieses Jahr schlückchenweise zu konsumieren. Ich glaube, dieses Jahr wird heiß, süß und schafgarbenfrei. Es verdient, in vollen Zügen eingenommen zu werden.