Entlang der Via Francigena: Ein Präsident als Pilger
Von Stefan Hofer
Es gibt Politiker, die sich vor Urnengängen extra auf Wanderschaft begeben, um Volksnähe zu vermitteln. Und es gibt Schweizer. „Ich mache prinzipiell keine Selfies“, antwortet Joseph Deiss auf die Frage, ob er ein Foto von sich als Fernwanderer auf der Via Francigena schicken könne. Monsieur Deiss – das muss man in Österreich nicht wissen – war Bundespräsident der Schweiz im Jahr 2004. Die Eidgenossen haben die charmante demokratische Eigenheit, ihren Bundespräsidenten jährlich zu wählen. Diese Funktion wird daraufhin vom gekürten Bundesrat ein Kalenderjahr lang als Nebenaufgabe angesehen.
Gut: Wer kurz Präsident ist, hat länger Zeit zum Wandern. Deiss ist zwischen August 2018 und August 2021 auf der Via Francigena gepilgert, von seinem Schweizer Wohnort Barberêche (Bärfischen) bis zur Kathedrale von Canterbury. Satte drei Jahre? Nun, er ging den alten Pilgerweg gestückelt. „Puristen kann das stören. Für mich war es nicht möglich, ganze zwei oder drei Monate abwesend zu sein.“ Diese zeitliche Aufteilung habe auch Vorteile, man lerne das Land zu jeder Jahreszeit kennen, nicht nur bei Postkartenverhältnissen. Das Gesehene und Erlebte sei so verdaulicher. „Es ist wie mit der Salami: Diese ist bekömmlicher in Tranchen als am Stück.“
Die Wahl des weniger bekannten Pilgerwegs ist interessant: Jährlich strömen Hunderttausende auf dem Jakobsweg Richtung Santiago de Compostela. Entlang der Via Francigena, die sich von Canterbury im Südosten Englands bis nach Rom erstreckt, ist es viel ruhiger. „Ich habe tagelang niemanden getroffen“, erzählt Deiss.
Zuerst nach Rom, dann nach Canterbury
Zuerst ist der Professor für Volkswirtschaftslehre von seinem Wohnort nach Rom gepilgert. In Rom angekommen, brauchte er neue Ziele. Dann habe er die restliche Strecke Richtung Norden in Angriff genommen. „Das ist nicht verkehrt oder abwegig, denn im Mittelalter mussten Pilger noch zu Fuß nach Hause zurückkehren. Sie konnten sich nicht auf die Swiss oder Lufthansa verlassen.“
Nun hat Deiss, der in wenigen Tagen seinen 77. Geburtstag feiert, ein Buch über seine Begegnungen entlang der Via Francigena geschrieben. Viele Tagesetappen beschritt er im Winter: „Es gibt nichts Erholsameres als Winterwandern. Ja, ich genieße es, bis zu den Ohren eingewickelt, die kalte Witterung zu verspotten, die sogar Luchs und Wolf abschreckt.“
Für den Neugierigen ist jeder Ort spannend.
Auf die Frage, welcher Abschnitt der landschaftlich reizvollste ist, lässt sich Deiss – ganz Diplomat – nicht ein: „Für den Neugierigen ist jeder Ort spannend.“ Er habe jedoch ein Faible für die Picardie mit ihren gotischen Weltwundern. Der Nordosten Frankreichs sei ein Festspiel der intakten Natur.
Deiss wandert meist allein, er sei dann offener für Kontakte. Und schildert abschließend eine besondere Begegnung: „In Alaincourt, in der Nähe von St-Quentin, hat mich das Gespräch mit einem fast erblindeten Menschen gerührt, der mir spontan seine Lebenslage erzählte. Wir standen beide da mit unseren Stöcken, ich mit jenen des Trekkings, er mit den weißen Stöcken des Sehbehinderten.“
Fernwanderweg: Der Frankenweg führt von England über Frankreich nach Rom. Die Rekonstruktion der Strecke stützt sich auf Angaben des Erzbischofs Sigerich von Canterbury, der im Jahr 990 nach Rom pilgerte.
Planung: Weginformationen und Unterkünfte: via-francigena.com/
Pilger: Joseph Deiss (geb. 1946 in Freiburg) war Volkswirtschaftsprofessor, Schweizer Bundesrat und Bundespräsident im Jahr 2004