Kolumnen

Der Ausnahmefehler

Ein älterer Mann drängte sich bei der Supermarktkassa vor. „Die Menschen werden immer egoistischer“, sagte ich zu meiner neben mir stehenden Tochter. Meine Tochter deutete nach hinten und antwortete: „Dreh dich mal um, da warten fünf Kunden, die sich nicht vordrängen“. Sie hat recht. Meine Wahrnehmung richtet sich oft nur auf den Sonderfall. Wenn in den Nachrichten über einen Flugzeugabsturz berichtet wird, könnte man meinen, Fliegen sei gefährlich. Doch es landen jeden Tag weltweit 100.000 Flugzeuge. Um die Gefahr in ein Verhältnis zu setzen, müsste ich mir auf Youtube 99.999 Landungen ansehen.

Ich habe das versucht. Jetzt habe ich weniger Angst vorm Fliegen, jedoch sehr viel Angst vor Youtube. Nachrichten beschäftigen sich eben immer nur mit den Abweichungen. Die allermeisten österreichischen Politiker besuchen nämlich keine Taliban, empfehlen nicht McDonald’s als gesunde Jause oder widmen ihre Wiener Kleingärten solange um, bis zumindest ihre eigene Pension gesichert ist. Vielleicht braucht es Fernsehsender und Social-Media-Plattformen, die uns ausnahmslos den langweiligen Normalfall zeigen. Die Millionen von Palästinensern und Israelis, die sich ein friedvolles Nebeneinander wünschen und wir finden sicher weit über hundert Präsidenten, welche kein benachbartes Land verwüsten wollen.

Das mediale Scheinwerferlicht richtet sich mit großer Leidenschaft ausschließlich auf die Idioten. Natürlich glaubt mein Gehirn irgendwann, wir sind von Verrückten umzingelt. Kleinen Kindern entzieht man bei unerwünschten Verhalten die Aufmerksamkeit. Warum machen wir das nicht auch, wenn diese Kinder erwachsen sind? Ich sehe bereits einige Despoten vor mir, wie sie sich im Präsidentenpalast, wie bei einer Supermarktkassa, auf den Boden werfen und schreien: „Wie deppad muss ich noch sein, damit man über mich berichtet?“.

Die Andererseits-Kolumnen finden Sie auf kurier.at/kolumnen