Was am Heiligen Abend heilig ist
Stille Nacht. Am Heiligen Abend ist das Café besonders gut besucht. Abgesehen von den Stammgästen, die natürlich auch an diesem Abend da sind, weht es einsame Seelen herein, die ein wenig Gesellschaft suchen, ohne gleich mit jemandem sprechen zu müssen. Andere haben einen Weihnachtslieder-Hörsturz erlitten und sind heute besonders dankbar dafür, dass es im Café Kralicek grundsätzlich keine Berieselung gibt. Überhaupt ist es das, was den Heiligen von anderen Abenden im Café unterscheidet: Entspannt ist die Atmosphäre ja immer, am 24. aber liegt eine irgendwie magische Stille im Raum. Eine heilige Ruhe.
Heilige Nacht. Man würde sich wundern, wie viele Gäste noch Kirchensteuer bezahlen. Warum, können sie nicht so genau sagen, die Christmette aber ist unverzichtbarer Teil ihrer Weihnachtsroutine. Manche bekommen dabei allerdings eine Überdosis Besinnlichkeit ab und verspüren danach das dringende Bedürfnis, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken. Okay, das war jetzt nur dem Wortwitz geschuldet. In Wirklichkeit ist das Café nicht der richtige Ort für Alkoholexzesse. Wahr hingegen ist: Bier und Schnaps, Wein und Schampus schmecken am Heiligen Abend anders als sonst. Feierlicher.
Alles schläft. Am Heiligen Abend ist die Stadt zwar ruhig wie selten, aber sie kommt lange nicht zur Ruhe. Sie ist voller Söhne und Töchter, die auf dem Heimweg von Familienessen sind, die sie im besten Fall ohne bleibendes Zerwürfnis hinter sich gebracht haben. Wenn sie danach im Café hereinschneien, sind sie verletzlich wie frisch geschlüpfte Singvögel. Die Kellner behandeln sie behutsam wie Pfleger und lesen ihnen jeden Wunsch von den Lippen ab. Wenn den Gästen dann die Augen zufallen, decken sie sie mit einem Tischtuch zu und wünschen eine stille Nacht.