Barbara Kaufmann: Das letzte Kapitel
Von Barbara Kaufmann
Es war vor fast 20 Jahren auf einer Abendveranstaltung im Sommer. Es war schwül und im Saal heiß und stickig. Ich arbeitete neben dem Studium aushilfsweise als Marketingassistentin. Ich schrieb Broschüren und half dabei, Veranstaltungen zu organisieren wie diese. Ich war sehr froh über den Job. Er war gut bezahlt, das Team war nett und jung, auch der Chef kaum älter als wir.
Ich war damals gerade 20 Jahre alt, unsicher und etwas ungelenk, korpulent und manchmal unglücklich darüber, aber meistens unwillig, es zu ändern, weil all die Diäten klangen wie Umerziehungsprogramme und ich eigentlich so bleiben wollte, wie ich war.
Er stand plötzlich neben mir. Mein Chef stellte uns vor. Er war Anfang 60, ein wichtiger Mann in jenem Unternehmen, für das wir die Veranstaltung organisiert hatten. Jemand, der etwas zu sagen hatte und das auch wusste. Sein erster Satz war, dass er dicke Mädchen mochte, weil sie Biss hätten. Er sagte es so, als würde er eine Hunderasse beschreiben.
Mein Chef lachte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und weil mein Chef lachte, lachte ich eben auch. Dann beugte sich der Mann über mein Glas Mineralwasser und fragte, warum ich keinen Wein trinken würde. Ich sagte ehrlich, weil ich Kopfschmerzen hätte. Daraufhin legte er einen Arm um mich und meinte, er wüsste ein todsicheres Mittel gegen Kopfschmerzen. Nur leider, zwinkerte er und drückte mich an sich, wäre er nicht mehr jung genug dafür. Sonst könnte er es mir zeigen. Das Lächeln auf dem Gesicht meines Chefs war eingefroren. Heute wüsste ich, was zu tun wäre. Damals war ich wie versteinert. Sei ein braves Mädchen, sei artig, benimm dich. Das war alles noch in meinem Kopf.
Und ich war immer davon ausgegangen, dass sich dann die anderen auch benehmen würden. Es ging diesem Mann nicht um Nähe oder Zuneigung, es war keine Liebe auf den ersten Blick. Es ging ihm darum, zu zeigen, ich bin ein mächtiger Mann, dem nichts passieren kann. Ich kann mir nehmen, was ich möchte und sagen, was ich will. Jederzeit und ohne Konsequenzen.
Ansprechen
Letztes Jahr in der Weihnachtszeit hab ich meinen damaligen Chef zufällig getroffen. Ich sehe ihn öfter, seit er in meinen Bezirk gezogen ist. Und plötzlich war mir danach, ihn auf den Vorfall anzusprechen, der so lange zurücklag. Er warf einen seltsamen Seitenblick auf seine kleinen Töchter. „Nicht vor den Kindern“, mahnte er, als hätte ich etwas Unanständiges vor. Aber er wusste sofort, welche Situation ich meinte. Er hatte es auch nicht vergessen. „Was willst du?“, fragte er, „der Mann ist wahrscheinlich schon tot.“ Dann ging er weiter.
Ich kontaktierte ihn danach ein paar Mal, aber er reagierte nicht. Zu Beginn des Jahres meldete er sich dann doch. Wir sprachen lange miteinander. Es tat ihm schrecklich leid, dass er damals nichts gesagt hatte. Es hätte danach noch öfter Probleme mit dem Mann und anderen Mitarbeiterinnen gegeben, sie hätten schließlich nicht mehr für das Unternehmen gearbeitet. Ich sollte es ihm bitte nicht nachtragen. „Ich bin nicht nachtragend“, sagte ich. Ich wollte nur das letzte Kapitel einer Geschichte schreiben, die bisher kein Ende gehabt hatte. Damit wird sie nicht gut. Aber sie ist endlich vorbei.
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