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Wo Kinder wirklich an der Macht waren

Berührend – das ist nur ein Hilfsausdruck für das was sich vor allem am Ende der Premiere von „ – Stadt der Freude“ in einem der Höfe des Wiener Volkskundemuseums abgespielt hat. Einig alte Frauen und Männer erweckten die zuvor von jungen Schauspieler_innen recht lebendig gespielten Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, wahrhaftig zum Leben. Sie, die bei der Recherche für das Stück von „Auf Grund“ & diverCITYLAB in Kooperation mit Dschungel Wien bereit waren, ihre Kindheitserinnerungen zu teilen, waren nun zu Tränen gerührt. Auch den Darsteller_innen, die noch in ihrer Ausbildung sind, ging es nicht anders. Ausschnitte aus ihren und ihrer „Geschwister“-Kinder-Geschichten waren erzählt und gespielt worden.

Das Publikum erlebt bewegte und bewegende Geschichten in einem Stationenstück (Konzept und Regie: Tanja Witzmann, Recherche und Übersetzung: Lídia Luca Pályiő) über die real existierende Kinderrepublik zwischen 1945 und 1951 in einigen Waisenhäusern Budapests unter der Leitung des evangelischen Pastors Gábor Sztehlo.

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Mit- und Selbstbestimmung

So wie Janusz Korczak in dem von ihm geleiteten Waisenhaus im Warschauer Ghetto sogar unter diesen widrigsten Umständen seine schon jahrzehntelangen Grundsätze der Mit- und Selbstbestimmung von Kindern praktizierte, so wurden – zumindest Teile der auf mehrere ehemaligen Villen verstreuten Waisenhäuser in Budapest von Kindern und Jugendlichen (mit-)regiert. Die Republik hatte eine eigene Verfassung, gewählte Regierungen, Ausweise, Währung (Gapo-Dollar), (Wand-)Zeitungen (aus Mangel an Papier) ... Die Idee dazu hatten Kinder und Jugendliche gegen Ende des 2. Weltkriegs als sie mit Gábor-Bácsi (Onkel, wie ihn alle nannten) in einem Luftschutzkeller saßen und über die Zukunft diskutierten.

Zuvor hatte der Pastor rund 2000 Jüd_innen, darunter etwa 1500 Kinder und Jugendliche gerettet, indem er ihnen christliche Identitäten verschafft hatte.

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Gemeinsam Start-Szenen

Die Grundzüge dieser Geschichte – noch im und dann unmittelbar nach dem Krieg - werden von den neun Schauspieler_innen in einer gemeinsamen rund halbstündigen Eingangsszene gespielt. Einprägsam wird die Not beispielsweise über die Klagen von der ewigen Erbsensuppe. Manchmal hat sie sogar „gelebt“ – „igitt, da bewegt sich was!“ – „Iss, das ist pures Eiweiß“. Ein wenig verwirrend wird’s durch zeitliche Vor- und Rücksprünge.

Die folgende Kinderrepublik war als gelebte Utopie – nicht von Anfang an eine Idylle. Die bunt zusammengewürfelte Kinder- und Jugendschar brachte nicht zuletzt aufgrund unterschiedlichster Herkünfte Konflikte mit: Jüd_innen und Christ_innen, aus armen Elternhäusern und andere aus adeligen (im neuen KP-Nachkriegsregime enteignet), Kinder von Anhänger des neuen Systems sowie solche von Kriegsverbrechern. Das ging nicht immer sanft oder nur in hitzigen Diskussionen ab. Handgreiflichkeiten kamen durchaus vor.

Gábor Bácsi soll da einmal mit Donner dreingefahren sein. Als reinigendes Gewitter sollten alle einzeln ihre Gefühle beschreiben und so ihre negativen Gefühle loswerden. Danach reichten alle einander die Hände und wurden zu „Geschwistern“ – Verbindungen, die auch das doch frühe Ende der Kinderrepublik (1951), das die KP-Regierung verstaatlichen wollte – überdauerten.

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Einzelgeschichten

Nach der ersten halben gemeinsamen Stunde teilt sich das Publikum in fünf Gruppen, um in intimerem Rahmen fünf szenischen Einzelgeschichten in verschiedenen Ecken und Enden des Museums beizuwohnen. Duygu Arslan und Barča Baxant spielen die beiden Schwestern und Kati Elöd. Die ältere versucht der jüngeren die Läuse aus den Haaren zu frisieren, die Achtjährige versteht so manches noch nicht, den Judenstern, den sie nun tragen müssen, hält sie für einen Orden und führt ihn stolz aus. In wenigen Minuten lassen die beiden nicht nur diese Station der Geschichte plastisch werden, sondern auch die folgenden Jahrzehnte im Zeitraffer.

Zerfließen der beiden Schauspielerinnen nach der Aufführung, als die echte Nóra Elöd zu Tränen gerührt ist, ihre Kindheit so einfühlsam dargestellt gesehen zu haben. Sie selbst, ehemalige Russisch-Lehrerin, hat in ihrer Pension bereits 70 Schulklassen besucht, um als Zeitzeugin plastischen Geschichtsunterricht für Kinder und Jugendliche zu gestalten.

Wie die Kinderrepublik schon in den bitteren Anfangsmonaten und vor allem danach eine Stadt der Freude – samt vielfältigem Freizeitangebot – von handwerklichen Ateliers bis zu einem Fußballplatz und eigenen Olympischen Spielen – war, so sind die Einzelszenen immer wieder von dieser Lebensfreude erfüllt. Da sticht besonders jene von Isabella-Nora Händler hervor, die Kindheitsbilder von Greta Elbogen (die ebenfalls anwesend war) „auferstehen lässt – zwischen den Erinnerungen an ihre hebräisch betende Mutter sowie Liedern und Tänzen zu Walzerklängen und dann doch wieder das Bild von der eigenen Mutter, die meinte „zu deinem eigenen Wohl“ wäre sie besser in einem der Sztehlo-Waisenhäuser aufgehoben.

Apropos Mutter: David Moser – gespielt von Christina Lindauer - erkannte nachdem er dem KZ entkommen war - seine abgemagerte, ergraute, einst kräftige Mutter zunächst gar nicht, erst an der Stimme. Mit der Organisation Hashomer Hatzai ging er nach Israel wo er der Shoa (Holocaust)-Gedenkstätte Yad Vashem von Gábor Sztehlo so eindringlich berichtete, dass diese den evangelischen Pastor später in die Liste der Gerechten der Völker aufnahm und ihm zu Ehren einen Baum pflanzte.

Auch die Szene der ersten „Mädchenburg“-Bürgermeisterin, Viktoria Főző, gespielt von Kira Fasbender, strahlte vor allem Lebensfreude aus: Von Botengängen als Überbringerin von Liebesbriefen in die „Wolfsburg“, weil dort ihr Bruder lebte, bis zu den beliebten, ausgelassenen Maskenbällen - mit Ausnahme des Schock-Auftritts eines kleinen Jungen, der sich als Hitler verkleidete.

Ahmet Ağgün (als Andor Andrási, einer der Checker der Gábor-Sztehlo-Stiftung, der für die Theaterleute die Kontakte zu Zeitzeug_innen hergestellt hatte) und Onur Poyraz (Lászlo Keveházi, erster Kinderrepublik-Ministerpräsident und Sztehlo-Chaffeur) schildern unter anderem eine Szene, wo sie stolz vom russischen Kommandanten zusätzliche Lebensmittellieferungen für die Kinderheime erfochten – um dann zu gestehen, dass Gábor-Bácsi dies schon Tage davor eigefädelt hatte.
 

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Abschließende Wahl

An eine oder die Hymne konnten sich die Zeitzeug_innen nicht so genau erinnern und so komponierte Imre Lichtenberger Bozoki für den Schluss des Stücks, der wieder gemeinsam mit allen Gruppen stattfindet und bei dem sich zwei Kandidatinnen zur Wahl der Ministerpräsidentin aufstellen lassen. Die eine will sich um die Finanzen kümmern und bunte Zäune bauen (lassen), die andere plädiert für Solidarität und Fahrräder für alle. Das Publikum dieses Stücks über eines der interaktives Elemente demokratischer Früherziehung zu „selbstständigen, selbstbewussten, zur Selbsterkenntnis und Selbstkritik fähigen, handwerklich geschickten und theoretisch gebildeten Menschen“ (§1 der Gaudiopolis-Verfassung) hat die Wahl ;)

Bei der Premiere verliehen unter vielen Tränen aller Beteiligten Andor Andrási und Béla Jancsó Abzeichen der einstigen Kinderrepublik sozusagen als Orden an alle Mitwirkenden des Theaterstücks. Weiters waren – manche schon genannt – die Zeitzeug_innen Greta Elbogen Viktoria Fözö, Nóra Elöd, Rudi Schönwald, Bálint Füzeki und Éva Bán extra zur Premiere angereist.

 

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Aus der Hymne

Die zuvor gesungenen nun nachträglich getextete (Tanja Witzman) und komponierte (Imre Lichtenberger Bozoki ) Hymne drückt die Grundsätze der Kinderrepublik aus, wie sie das Stück auch zu vermitteln versucht und lebt:

Wir sind Geschwister/Woher wir kommen ist egal/Haben nicht die Qual der Wahl/Manchmal gibt es/Differenzen/Lasst uns schlichten/Die Turbulenzen!

Bei uns gibt es keinen Drill, / Keinen der den Weg versperrt/ Neues zu erkunden/ Welten zu umrunden

Ja wir mischen alle Farben/braun, und rot und blau und weiß/ gelbe Sterne, alte Wappen/Änderungen in Etappen

In der Budakeszi út/Ja, das macht uns allen Mut!

Refrain:
Gaudiopolis
wir sind der Freudenstaat
Gaudiopolis
das sind wir
Gaudiopolis im Frieden liegt der Liebe Tat
Gaudiopolis selbstbestimmt sind wir
Gaudi o polis!

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Infos: Was? Wer? Wann? Wo?

Gaudiopolis
Stadt der Freude
Auf Grund & diverCITYLAB in Kooperation mit Dschungel Wien
Performativer Museumsrundgang
ca. 1,5 Stunden, ab 12 J.

Konzept, Leitung: Tanja Witzmann
Recherche, Übersetzung: Lídia Luca Pályiő

Mit:
Ahmet Ağgün – Andor Andrási
Duygu ArslanNóra Elöd
Barča Baxant – Kati Elöd
Kira Fasbender  - Viktoria Fözö
Sayyed Javid Hakim – András Kiss
Isabella-Nora HändlerGreta Elbogen
Christina Franz LindauerDavid Moser
Onur Poyraz – Lászlo Keveházi
Melike Yağız – Béla Jancsó

Musik: Imre Lichtenberger Bozoki

Ausstattung: Renate Vogg, Sarah Sternat

Wann & wo?
Bis 22. Juni 2018
Volkskundemuseum Wien: 1080, Laudongasse 15–19
www.gaudiopolis.at

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Fotos von den Live-Begegnungen mit Zeitzeug_innen

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