Lust auf Plastik oder ein fantasievolles Wesen?
Von Heinz Wagner
Mehrmals Meeresrauschen, Seile und Absperrbänder und viel Bewegung, manches Zusammenspiel zwischen Live-Performance und Video auf der Leinwand im Hintergrund, ernste Themen und mitunter Humorvolles - das brachte die dritte Auflage des Formats „Try Out“ im Dschungel Wien. Es war ein abwechslungsreicher, dichter, (vielleicht ein wenig zu) langer – Abend. Ausprobieren durften sich elf Gruppen und Künstler_innen-Kollektive mit Kürzest-Performances (Tanz, Schauspiel, Musik – mitunter samt Videoeinspielungen). Das Theaterhaus für ein junges Publikum im Wiener MuseumsQuartier hatte „zeitgenössische Projektideen mit einem entweder sehr körperlichen und musikalischen Ansatz oder der Auseinandersetzung mit Objekten bzw. Material für alle Altersgruppen zwischen 3 und 16 Jahren“ gesucht. Aus 46 eingereichten wurden elf ausgewählt, ihr Work in Progress mit dem Publikum zu teilen.
Wischen
Der Abend begann mit dem Stoff eines Jugendtheater-Klassikers „Frühlingserwachen“ (Frank Wedekind), allerdings dem Zusatz „2.0 – eine Tindertragödie“ (ab 13 Jahren). Pastellfarbig, häuslich, häkelnd startet die Performance, geht über zum gemeinsamen Wischen dreier Frauen auf der Suche nach jungen Männern. Die endet bald im Konkurrenzkampf samt Polsterschlacht und Tagebuch-Zerreiß-Drohung.
Seile
Dicke Seile von der Decke, auf einem Kopf wie ein riesiger Berg Haare, rund um den Körper gewickelt – die erste Assoziation mit Schiffen passt zum Titel, die zweite zu Zirkus. In „Über Piratinnen – Geschwestern der See“ (ab 10 Jahren) agieren die Performerinnen artistisch, allen voran Maartje Pasman, die am Seil springt und sich fallen lässt als wäre der Boden ein Bett oder ein Sprungtuch. Dazwischen nennen die fünf Frauen die Namen von Piratinnen – die für das Publikum alle neu sind – wie Frauen in vielen Bereichen lange Zeit in der Geschichtsschreibung kaum vorgekommen sind. Rufe von/nach Freiheit runden den Auftritt ab.
Ein Seil – jeweils um die Hüften gebunden - verbindet die beiden Tänzerinnen Sofie Douda und Shirin Farshbaf in „Bound Bind“ (ab 10 Jahren). Das verbindet die beiden nicht nur, damit geben sie einander bei ihren Bewegungen auch Halt. Was rein physisch sichtbar ist, will aber auch die dahinter liegenden Inhalt transportieren wie beispielsweise Halt im psychischen, sozialen bzw. Verantwortung füreinander. Bita Bell, eine der Choreografinnen, die auch performen wollte, konnte leider nicht dabei sein – sie bekam kein Visum.Würde das Projekt realisiert werden, sollte das Publikum eingebunden – im wahrsten Sinn des Wortes – werden: Alle würden ein Ende eines Seils halten, die Seile miteinander verknotet – Aufgabe aller, gemeinsam zu entknüpfen, zu befreien.
Lustvoll den Blick erweitern
Laura Steinhöfel und Anne Kapsner nennen ihre Performance „Lust. Ein Zyklus in drei Akten“ (ab 15 Jahren). Eines der natürlichsten Dinge der Welt ist selbst in der ach so aufgeklärten Zeit und jenen Teilen der Welt, die sich so nennen, noch immer stark tabuisiert oder einfach vielen unbekannt. Die Klitoris mit ihren empfindlichen 8000 Nerven als Sitz der weiblichen Lust spielt oft auch in der Sexualaufklärung kaum eine Rolle. Das ändern die beiden im ersten Teil in einem ganz natürlichen Setting – in dem die Großmutter bei einem Besuch ihrer Enkelin bei ihr in Peru am Meeresstrand ihr davon erzählt.
Die zwar viel präsentere aber noch immer mit Scham behaftete Periode dominiert den zweiten Akt – samt Fakten, dass eine Frau im Laufe eines durchschnittlichen Lebens in ihren „Tagen“ rund 35 Liter Blut verliert.
Gelassenes Beobachten von spielenden Kindern kann auch immer wieder den Blick weiten. Die Performerinnen Viviana Fabiano, Lara Finadri (Konzept und Choreo: Seydi Rodriguez Gutierrez) haben für „Panorama“ (ab 4 Jahren) offenbar Kindern beim Spielen ziemlich intensiv zugeschaut. Ob Tempelhüpfen, und andere Spiele, sie wirken ziemlich authentisch – auch wenn sie in wilden Tanz verfallen.Rund um Kinderspiele kreist auch die Vorbereitung für ein Geburtstagsparty in „Etwas fehlt!“ von Villa Agathe (ab 6 Jahren). Karin Steinbrugger und Shureen Shab-Par als Frieda und Rike versuchen mit beschrifteten Spiel-Boxen Kuchen herzustellen. Aber nicht nur da fehlen Zutaten. Sie haben doch alle aus der Klasse eingeladen. Oder doch nicht?!
Warum machen Kleider Leute?
Ob Hans Christian Andersens berühmtes Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ oder Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“, um nur die bekanntesten literarischen Auseinandersetzungen zu nennen, die sich mit falschen Ansichten über Menschen aufgrund ihrer Kleidung auseinandersetzen. Verändert haben selbst diese nichts. Da kann noch so oft von der Wichtigkeit der inneren Werte geredet werden, für – zu – viele zählt das Äußere, das Gewand, in das sich Menschen kleiden, zu viel. Auf eine üppige, teils auch sehr witzige Art und Weise setzen sich auch Yuli Spiegelman, Andrea Vezga (Konzept und Choreo: Nina Sandino, Andrea Vezga) in der Performance „How many Layers ´til I’m gone“ (Wie viele Schichten bis ich gegangen bin) auseinander. Von Auftritten auf einem Laufsteg bis zum Schlüpfen in ein monströses kaum tragbares Kleid reicht die Palette. Schlussfrage: „Wieso ist es so wichtig, was ich anziehe?“
Froschung und Demokartie
Irgendwie erinnert diese 11-jährige Isa an Pippi Langstrumpf. Sie baut sich die Welt, wie sie ihr gefällt. Allerdings ist sie offenbar nicht so selbstbewusst, denn ihr liegt schon dran, was denken die anderen? Das ist aber nur eine der Fragen, die sie beschäftigen. Nicht zuletzt kreisen einige um das Thema Mädchen und Buben – was sollen die einen und die anderen dürfen, ist allen alles erlaubt oder gibt es da Einschränkungen. Die ergeben sich beim Zusammentreffen mit dem fünfjährigen Moritz, der für seine Mutter froscht, die über solche Materien schreibt. Mehr solcher Buchstabenverdrehungen kommen in den Gesprächen er beiden Kinder immer wieder vor.
Worüber die Froschung der beiden wirklich gehen soll, kann das Publikum in „A) Füße hoch B) Blau“ (ab 7 Jahren) von Jeske de Blauw und Sofia Falzberger (die auch beide Protagonist_innen spielt) – an- bzw. vorgeblich – mitentscheiden – durch Abstimmen mit den zuvor verteilten blauen Kärtchen oder indem die Zuschauer_innen ihre Beine/Füße hochhalten.Nicht explizit, aber in gewisser Weise wirft auch die Performance „Greda“ (ab 13 J.) die rollenfrage auf, aber auch die nach Individualität und/oder Zweisamkeit bzw. Gemeinsamkeit. In poetischen, getanzten Bildern interagieren die beiden langhaarigen Wesen DaDa JV und Gregor Krammer (Idee, Choreo: Romy Kolb und die Performer selbst) zu Musik von Flavien Berger „Deep See Blue Song“ und verschmelzen hin und wieder zu einem Wesen.
Plastik
In „Ocean“ (ab 4 Jahren) tanzen Lisa Magnan und Elda Gallo (von ihr stammen auch Konzept und Choreografie) mit dem Meeresrauschen wellenbewegt im Zusammenspielt mit Zeichentrickbildern auf der Leinwand. Und machen dabei das massive Problem der Meeresverschmutzung durch Plastik sichtbar. Aber auch, dass es möglich ist, dieses zu stoppen und wie jede und jeder Einzelne dazu was beitragen kann.Viel von solchem Zeugs spielt in der letzten Performance-Präsentation des Try-Out-Abends eine große „Rolle“: „Von der Rolle“ (ab 3 J.) zeigt drei Bauarbeiterinnen, die mit den bekannten rot-weiß gestreiften Kunststoffbändern Baustellen oder was auch immer absperren wollen. Die Grenzen spannen sie auch quer durchs Publikum mit den Bändern, die sie von der Rolle abwickeln. Aus dem Hintergrund tauchen zottelmonsterartige Wesen auf – alle aus zerschnittenen, zusammengebundenen Stücken solcher Absperrbänder. Und – so wird versprochen – die neu abgewickelten Teile werden zu weiteren Zotteln dieser Wesen, di mal lustig, mal gruselig auftreten – im grenzenlos werdenden Spiel von Noemi Egloff, Milena Kaute und Fiona Schmid, den drei Performerinnen, die auch gemeinsam die Idee hatten und das Konzept entwickelten.
Jury-Entscheidung
(Fast) alle, die den Abend genossen, hatten nicht die äußerst schwierige Aufgabe der Jury. Drei Projekte sollten sie auswählen, ihre Arbeit „mit dramaturgischem Coaching und Probepublikum sowie einem geringfügigen Zuschuss in den Probenräumen des Dschungel Wien weiterentwickeln“ dürfen. Corinne Eckenstein, Cornelius Edlefsen, Anna Rupp und Silvia Both beschlossen als Juror_innen, dass sogar vier Gruppen diese Chance bekommen sollen:
LUST. Ein Zyklus in 3 Akten / Laura Steinhöfel, Anne Kapsner (ab 15)
Panorama / Seydi Rodriguez Gutierrez, Lara Finadri (ab 4)
GREDA / Romy Kolb und Performer (ab 13)
Ocean / Ella Gallo, Lisa Magnan (ab 4)
Am 29. Mai 2020 werden sie weiter entwickelte Kurzstücke Besucher_innen und einer weiteren Jury vorspielen. Daraus wird dann eines mit der weiteren Arbeit bis zu einer Vollversion belohnt.