Bis zum Horizont - und weiter?
Von Heinz Wagner
Update 8. September 2018, 13.53 Uhr: Neue Besprechung hinzugefügt.
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Ein kleiner chaotischer Berg aus Holzkästchen, die vielleicht Vogelkäfige sein könnten fast mitten auf der Bühne und eine Art Holztisch mittig ganz hinten auf dem Tanzboden. So präsentiert sich die in noch eher gedämpftes Licht gehüllte Bühne dem Publikum im Feldkircher Pförtnerhaus zu Beginn von „Fliegende Kuh“. Dieses Tanzstück ab 4 Jahren eröffnete den Herbstteil des 30. Internationalen Theaterfestivals für ein junges Publikum.
Dann eiert von der Seite ein (nicht kugel-)rundes weißes Ding in die Bühne. Erwartungsvolles Lächeln einiger Zuschauer_innen. Und dann: ein flatterhafter Tänzer (Orlando Mardenborough), wuselt umher und hat in Sekundenbruchteilen die Herzen zumindest der (ganz) jungen Im Publikum erreicht. Er schnappt sich eines der Kistchen, das nun deutlicher als Käfigchen zu erkennen ist und stülpt es über das Ei. Noch ein Ei, nochmals „eingefangen“. Und wieder.
Aus dem Off ertönt Muhen. Bald danach pendelt ein Kübel von der Seite auf die Bühne, trifft den Tänzer fast. Den Kübel wird er kurz danach nehmen und versuchen, drauf sitzend, selber ein Ei zu legen. Mit einem zarten Hauch von einem tollpatschig spielenden Clown, in tänzerischer Perfektion und in einer irrsinnig starken Bühnenpräsenz wird der genannte Tänzer mit Szenenlachen belohnt und von einem geschätzt Fünfjährigen spontan lautstark als „Spaßvogel“ tituliert und dem Satz „den mögen wir!“ ausgezeichnet.
Zu seinem Tanz und Spiel gesellt sich noch das An- und Ausschalten von Geräuschen – das immer dann, wenn du meinst eine Logik dahinter zu erkennen – auf Kübel sitzend oder nicht - überraschenderweise doch anders ertönt oder auch nicht.
2 : 1
Nach geschätzten zehn Minuten des Solotanzes und -spiels flattert eine Mittänzerin ( Wiktoria Czakon) auf die Bühne, die ein Ei langsam aus Mund lässt – das ihr der erste Tänzer wegnimmt. Was sind schon all die eigenen zuvor gesammelten Eier gegen jenes des anderen Kindes?! Erwachsene mögen darin vielleicht den Raub eines eben geborenen Kindes durch den Vater sehen – die Rolle wurde nur in einer früheren Inszenierung von einer Frau getanzt.
Später lässt sie ein Ei über dem Tisch im Hintergrund in der Luft schweben. Eine dritte Tänzerin ( Tessa Wouters) taucht am Stock - als alte Bäuerin (?) – auf, bleibt aber nicht in dieser Rolle. Die drei kommen ins Spiel, mal das, mal jenes, mal die zu zweit, dann wieder ein anderes Duo. Immer wieder wird eine/r ausgeschlossen. Außenseitertum, Mobbing, Eifersucht in einer bewegten, spielerischen Art spürbar auf der Bühne zu erleben.
Das Problem eines Trios mit Tendenz zu immer wieder wechselnden Koalitionen – das kennen nicht nur Kinder. Möglicherweise tut es nur einem Tisch gut, drei Beine zu haben, die ihn definitiv stabiler machen als vier – drei können ihn nicht wackeln lassen (!).
Die Kuh? Die einen warten vielleicht sehnsüchtig auf sie, andere haben die titelgebende Figur möglicherweise schon vergessen. Doch sie und auch schon zuvor ein Stier tauchen auf – aus wenigen Rohren und Eckverbindungen ebenso zusammengebaut (das Teil mit Kuhmuster darauf hätte es gar nicht gebraucht) wie ein Fahrrad, ein Lenkrad und noch so manch anderes. Genial, wie eine Luftpumpe phasenweise zum Saxophon mutiert – und dann über das Rohrgestänge einen Gummihandschuh zum Euter aufbläst. Irgendwann lassen die Tänzer_innen diese Kuh auch kurz schweben.
Es folgt noch im Schnelldurchlauf eine Andeutung des Jahres-/Lebens-Kreislaufs mit fliegendem Herbstlaub und schwebenden Federn, die auch fallende Schneeflocken sein können.
In die spielerisch-tänzerischen Szenen mischen sich mehrmals auch Phasen mit zeitgenössischem Tanz. Kinder haben ein Recht auf Kunst – wie es auch in der UNO- Kinderrechtskonvention verankert ist. Das ist der Gruppe aus dem niederländischen Breda wichtig, weshalb sie auch viele Workshops mit Kindern rund um ihre Aufführungen durchführen. Und aus eigenem Spiel entwickeln sie – wie sie im abendlichen Gespräch, das Bestandteil des Festivals ist – ihre Szenen und Figuren, die sie gemeinsam mit Choreograf Jack Timmermans dann zu Stücken komponieren (Bühne: Bert Vogels, Musik: Timothy van der Holst, Kostüme: Joost van Wijmen, Lichtdesign: Rosa Steenvoorden).
Multimedialer fliegender, bunter Fisch
Was zu Beginn aussieht wie eine nicht ganz taufrische Bastlerwerkstatt im Hobbykeller entpuppt sich durch das Spiel und die Erzählung in der Folge als fantasievolles, schräges Märchen in einem Mix aus Erzähltheater, analoger und digitaler Bildtechnik. „Shubunkin – der Fisch im Mond“ ist eine Koproduktion der schweizer Gubcompany und des niederländischen Duos Wiersma & Smeets.
Die Zeugung der Koproduktion fand vor zwei Jahren in Feldkirch statt. Seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten findet beim Luaga & Losna-Festival neben den Theateraufführungen ein Symposion „Theater & Bild & Ton“ statt. Damals erzählte Christine Rinderknecht von der Gubcompany – nicht zum ersten Mal – die wahre erlebte Geschichte. Im Hof ihres Hauses in Zürich kamen aufgeregt zwei Mädchen, weil sie im Hof auf dem Boden einen Goldfisch zappelnd gefunden haben. Zwei Katzen beobachteten schon ihre vermeintliche Beute. Die Mädchen retteten den Fisch in einem Kübel voller Wasser und brachten ihn zum nächsten Teich.
Aus Improvisationen und mit einiger Fantasie wurde die Geschichte erweitert. Shubunkin nannte die Autorin den nun regenbogenbunten Fisch, der als Außenseiter in einem Teich auftaucht. Dass Meret und Zoe (die Kinder aus dem Hof) ihn hierher brachten, bleibt für die anderen ein Geheimnis. Live auf der Bühne schneidet Moniek Smeets die Fische aus Papier, Bram Wiersma lässt sie via analoger Projektion auf die Leinwand schwimmen.
Den Text spricht die Schauspielerin Rahel Hubacher und blättert in einem großformatigen Buch mit Zeichnungen ihrer Kinder. Für Töne, Geräusche sorgt live Erich Hufschmied. Regie führt Heinz Gubler, der Dramaturgie nahm sich Gabi Mojzes an.
Die Außenseiter-Geschichte samt Fressfeind Willi bleibt eine Randnotiz. Zur Hauptgeschichte wird die Begegnung mit der pubertierenden Mondtochter Miraluna, die ihre Mama peinlich findet und ihr Verbot, auf die Erde zu fliegen, ignoriert und per Mondstrahl reist. In diesen taucht nun auch Shubunkin ein – wodurch er auch nach Miralunas Rückkehr mit ihr verbunden bleibt.
Eingebettete, offene Technik
Die vielen technischen Einlagen mit Soundeffekten über live mitunter verzerrte Stimmen sowie die vielen optischen verspielten Projektionen – sei es analog oder digital erfordern punktgenaues, exaktes Timing, erfolgen nicht versteckt, sondern offen auf der Bühne – für das Publikum liegt alles offen. Und dennoch kommen sie spielerisch, transportieren die Bilder der Geschichte, überlagern sie nie. Optisches Highlight war für so manche sicher der via Projektion über die Wände und gar die Decke des Theatersaals im Pförtnerhaus schwebende bunte Fisch, dessen einzelne Lichtpunkte durch die projizierte, verzerrte Größe deutlich erkennbar wurden.
„Shubunkin – der Fisch im Mond“ ist nach einem durchaus harten Entwicklungsprozess - wie die Künstler_innen im abendlichen Gespräch schilderten – eine meisterhaft gelungene organische Verbindung analoger und digitaler Technik mit Schauspiel und einer fantasievollen ver-rückten bunten Geschichte.
Fernsehen wirklich live und interaktiv
In Zeiten wo TV-Sender sogar live faken, indem sie „zeitversetzt“ hinzufügen, wo Votings über Kandidat_innen als interaktiv verkauft werden, zeigt ein Walking Act beim Festival Luaga & Losna in der Feldkircher Innenstadt am und rund um den Marktplatz echtes Live-„Fernsehen“. Und bringt damit eines der Charateristika von Theater, live zu sein und trotz gleichen Spiels auch bei jeder Aufführung durchaus abhängig vom Publikum doch anders zu sein, ins Fernsehkastl.
Ein riesengroßer Lagerarbeiter in blauem Arbeitsmantel trägt ein großes, altes Röhren-Fernsehgerät. Scheinbar. In ihm steckt – anfangs gar nicht sichtbar – der Akteur (Gibé, genannt Art-Gaêl), gestylt auf smarter Magier.
So wanderte er am Dienstag mit der Performance „TV (i) Monde“ (Ausstattung und Puppe: Steff Albédo, Kostüm: Florence Godin, Cie Albédo) über den Wochenmarkt und tags darauf auch ohne Markt über Plätze und durch Gassen. Bleibt – mitunter abrupt – stehen, „spricht“ Passant_innen an – meist reicht sein durchdringender Blick, manchmal nimmt er eine Hand zu Hilfe und versucht die eine/den anderen per Zeigefingerbewegung zu sich nahe an den leeren Fernseher heranzuholen.
Immer wieder ertönen vom Band poetische Sätze, die auf philosophisch gestrickt, zwischen Tiefsinn und Nonsens mäandern. „Erst opferten wir ein Pferd, dann sangen wir Baum, Blume, Gras... leg dich auf längs auf den Boden und werde ein Freund der Erde...“ oder „Dein Blick treibt unter dünnem Eis“, „wächst Vertrauen in der Wiederholung, die dich vergisst“, „der Morgen dreht sich mit der Erde und Amseln tasten nach deiner Hand, wenn Sätze sich verlaufen...“
Magische Poesie
„Genau solche Sätze hab ich aus verschiedenen Gedichten oder Diskussionen im Internet zusammengesucht“, sagt nach dem Auftritt am zweiten Tag Gibé zum KiKu. „Ich hab auf Französisch Gedichtzeilen geschrieben, die eine Klammer zur Zauberei herstellen – beides versteht man nicht wirklich. Die Zeilen sollen aber insgesamt Anklänge an Liebe, Zusammenleben und damit Gesellschaftspolitik ergeben. In den anderen Sprachen suche ich dann nicht direkte Übersetzungen, sondern Zeilen und Sätze, die dieses Gefühl ausdrücken und auch irgendwie musikalisch klingen.“
Der Künstler begann als Musiker, vor allem im Bereich Jazz und Elektronik, studierte Schauspiel und kann auch viele Zaubertricks. „Ich mag Magie, aber ich hasse Zauber-Shows“. Dabei brachte er es in so manchen Kategorien zur Meisterhaftigkeit, wie Fred Carni, Sekretär der Künstler_innengruppe Cie les D´catalogués (Frankreich) dem Kinder-KURIER erzählt: „In zehn Disziplinen hat er Bewerbe gewonnen.“ 800 Mal lief dieses Straßentheater bereits – in Frankreich, England, den Niederlanden und nun auch in Österreich.
Kinder stiegen am ehesten auf das interaktive Spiel mit dem Schauspieler und Magier ein, manche Erwachsene flüchteten fast vor dem laufenden Fernseher. Und am zweiten Tag meinte ein Polizist, unbedingt die Erlaubnis von Stephanie Quenin-Blache, der Managerin der Compagnie, sehen zu wollen, obwohl Festivalleiter Johannes Rausch die Aktion in der Stadtpolizei in der Vorwoche angemeldet hatte.
Umso erfreuter zeigte sich eine französische Tourist_innen-Gruppe, die sich plötzlich vom TV-Moderator in ihrer Muttersprache angesprochen sah.
Der schon genannte Sekretär der Gruppe, Fred Carni, achtete vor allem auf die Reaktionen des (un-)freiwilligen Publikums und stellte gegenüber dem KiKu erstaunt fest: Zum ersten Mal hab ich hier Menschen lächeln gesehen. Sonst weichen die Menschen hier Blicken aus und schauen eher zu Boden, aber da haben viele echt gegrinst.“
Oh, was schlüpft da aus dem Ei?!
Obwohl sehr, sehr gebückt – der Rücken ist fast waagrecht – strahlt die alte Frau schon wenige Augenblicke nachdem sie die Bühne betreten hat, Lebenslust aus, swingt sogar im Rhythmus der Musik. Auch wenn ihr sichtlich alles schwer fällt, sogar das Löffeln der imaginären Suppe. In ihrer kurzzeitigen Abwesenheit, betanzt ein junger Mann ihr Haus, schnappt sich die Semmel, die die Alte dem Storch hingelegt hatte. Und wird erwischt – „Brotdieb!“
Mehr noch als sie sich vor dem Einbrecher fürchtet der sich vor ihrem Zorn und versteckt sich unter dem Tisch, der später noch eine vielfältige Rolle spielen wird in „Der Gesang des Krokodils“ (Regie: Daniel Gol) vom italienischen Teatro Distinto.
Sie (genial gespielt von Giuseppe Palasciano) checkt, dass er nur aus Hunger eingebrochen und in die Semmel gebissen hat, die restliche halbe gibt er ihr zurück. Als sie ihm unter dem Tisch die Suppenschüssel zuschiebt, fürchtet er sich noch immer. Sie kann ihn (Jacopo Fracasso) von ihrer Großherzigkeit und Offenheit überzeugen. „Komm her, ich fress dich nicht!“
Zaghaft und mitunter situationskomisch kommen sich die beiden einander so Fremden näher – Josefine und Josef stellen sie sich einander vor. „Jofesine“ sagt er anfangs, der offenbar eine andere Sprache spricht – und von Josefine ihre zu lernen beginnt. Sie lernt von ihm mit Händen und Armen am Tisch sitzend zu tanzen. Eine wunderbare, fast zärtliche Überwindung von Grenzen.
Nur Eitel, Wonne, Waschtrog wär fad, es braucht einen Konflikt. Der ergibt sich, als Josef ein Ei aus seinem Mund gebiert – aus dem bald danach ein kleines Krokodilchen schlüpft. Das sie aus Angst vor dem später groß werdenden gefährlichen Tier zertrampelt. Was ihn sehr, sehr verletzt und weinen lässt.
Über das Spiel mit vielen verschiedenen Tieren kommen sie einander wieder näher. Bis wieder ein Krokodil auftaucht. Das sie mit dem Kopf in den Boden rammt. Der besteht zwischen den Tischplatten aus rund 180 Kilo Salz. Etliche davon lässt sie auf ihn, der nun verletzt darunter Zuflucht sucht, auf ihn rieseln.
„Ich habe das nur zu deinem Besten gemacht!“, versucht Josefine die Tötung des gefährlichen Tieres zu rechtfertigen.
„Das war mein Ding!“, fordert Josef eine Entschuldigung ein.
Das Wort kommt ihr bald über die Lippen, ist ihm so aber doch zu wenig. Erst als sie ein neuerliches Ei – aus einem der roten Boxhandschuhe, die er ihr bringt – zieht und sie sich durchringt „es tut mir leid“ zu sagen stellt sich die Vertrautheit wieder ein.
Eine wunderbare ein wenig schräge Parabel auf die Annäherung zweier einander Fremder und die Bewältigung eines zwischen ihnen auftauchenden Konflikts über die Angst, die sich zwischen sie drängt.
Das fast wortlose Spiel mit wenigen Objekten und Musik bekannter Songs nah, so der Regisseur im abendlichen Diskurs, seinen Ausgang von seinem Bild mit dem Tisch und dem vielen Salz, das einen der Spieler verdeckt. Geschichte gab es da noch lange nicht. Mit ganz, ganz wenigen Objekten improvisierten die dafür gesuchten und gefundenen Schauspieler. „Bilder und Gefühle stehen für mich am Beginn“, sagt Daniel Gol von Teatro Distino und fügt hinzu „die beiden sind eigentlich einer“ und spricht die in einem tief sitzenden Ängste an, die vielleicht unter vielen Schichten vergraben sind.
Ritter von der humorvollen Gestalt
Kaum jemand verbindet nicht den Namen Don Quijote mit dem (symbolischen) Bild vom „Kampf gegen Windmühlen“. Doch diese wohl bekannteste Geschichte umfasst nicht einmal eine ganze Seite im 1400 Seiten starken 500 Jahre alten Buch von Miguel de Cervantes.
Das ändern Annette Scheibler und Sigrun Kilger vom „Ensemble Materialtheater (Deutschland) auf immer wieder witzige, (selbst-)ironische Weise mit zwei Puppen und wenigen sicht- und noch so manchen unsichtbaren Requisiten. Weil sich 1400 Seiten natürlich, obwohl sie das anfangs groß ankündigen, dann doch nicht in fünf Minuten erzählen lassen, mussten sie reduzieren. Doch selbst in den gespielten 70 + 40 Minuten (für Teil 1 und 2) konnten sie nicht alles unterbringen. Allerdings das Wesentliche sehr wohl. Die Grundgeschichte, dass Cervantes den Roman als Art Parodie auf die zu seiner Zeit grassierenden Ritterromane verfasst, in denen die Abenteuer immer heftiger wurden. Die Hauptfigur, Alonso Quijano, begann die gelesenen Abenteuer für bare Münze zu nehmen, saß sozusagen frühen Fake News auf. Und so erklärt er sich selbst zum „fahrenden Ritter“, gibt sich den Namen Don Quijote, nennt sein Pferd Rosinante (aus dem Spanischen rocín/Gaul und antes/vorher, vorangehend), sucht sich einen Knappen – Sancho Panza. Den überzeugt er von der Mitreise mit dem Versprechen, ein Ei-Land aus den eroberten Gebieten zu bekommen. Immer wenn der nicht weiter will, hält er ihm das Versprechen wie die sprichwörtliche Karotte vor die Nase des Esels.
Ritt auf dem Buch
Folgerichtig lassen die Figurenspielerinnen den Helden auf einem aufgeklapptem Buch reiten – in dem er zuvor gelesen hat. Und in dem sie immer wieder blättern um über ihre eigenen Abenteuer zu lesen – und sich so neuen Stoff zu holen für die weiter fantasierten Episoden.
Und wie Cervantes zwischen Abenteuern und der Reflexion darüber pendelt, so steigen die beiden Spielerinnen (Regie: Alberto García Sánchez, Ulrike Monecke; Figuren & Objekte: Ute Kilger) recht oft aus den gespielten Szenen – ausgewählten Szenen aus Cervantes zweiteiligem Werk - aus, um über die Tücken ihres Spiels zu quatschen, mitunter zu philosophieren. Wobei sie manche, weniger bekannte, Sprichwörter zum Besten geben: „Je öfter man anhält, desto schneller kommt man Voran“, „Ein halbes Ei ist besser als die ganze Schale“.
In diese Kategorie fällt vielleicht auch das den starken/dicken Roman ansprechende (Wort-)Bild: In der Hitze der kahlen Ebene der Mancha sei Don Quijotes Gehirn eingetrocknet, er habe den Verstand verloren und so sei viel Platz für neue Gedanken/Abenteuer. Am Ende, als es den ersten wirklich Toten gibt – Don Quijote kurz vorm Sterben – dreht sich das Verhältnis ver-rückter Ritter von der traurigen Gestalt und treuer, skeptischer Knappe um. Ersterer wird „vernünftig“, Letzterer bedauert dies.
Auch wenn über weite Strecken sehr humorvoll, ist die extrem – aus 100 Stunden Improvisation – verdichtete Version vielleicht doch ein wenig lang geraten. Und dass die bei Cervantes nie in Erscheinung tretende von Don Quijote Angebetete überhöhte Dulcinea von Toboso (dulce/süß) hier als übergroße vogelscheuchen-artige Figur auftritt – naja.
Genial hingegen, dass sie das abgedroschene Bild vom Kampf mit den Windmühlen aus der Sicht der Windmühlen spielen – dargestellt mit alten Holz-Teppichprackern. Ein einfacher, aber beeindruckender Perspektivenwechsel!
Entwickeln was in einem steckt
Berühmte Märchen haben den Vorteil, dass die Grundgeschichte den meisten schon bekannt ist, bevor sie das Theater betreten. So kann Frauke Jacobi vom FigurenTheater St. Gallen (Schweiz) in Hans Christian Andersens „Das hässliche junge Entlein“ die „Verwandlung“ in den wunderschönen Schwan schon vorwegnehmen. Auch wenn sie vom Publikum in ihrem weiten weißen Kleid und dem gleichermaßen eingefärbten Gesicht und Haar zunächst für einen Engel gehalten wird. „Es war auch schon einmal ein Geist“, erzählt sie im abendlichen Nachgespräch zur rund 50-minütigen Aufführung im Feldkircher Saumarkt-Theater während des 30. „Luaga & Losna“-Festivals.
18 Jahre spielt sie das Stück schon. Immer wieder wird sie angefragt, es doch wieder und wieder aufzunehmen. So eben auch hier. Viel verändert habe sie es nicht. Nicht notwendig. Das Ausspotten, Herabwürdigen, Ausgrenzen von Menschen, die nicht dem aktuell gängigen Schönheitsideal entsprechen hatte auch der Autor der Geschichte (geschrieben 1843) selbst erlebt. Und das Plädoyer für die Entwicklung von Eigenschaften, die in einem stecken, ist stets erforderlich.
Allein auf der Bühne mit einer großen alten Truhe mit einem kleinen Hügel dunkelgrauer und schwarzer Federn drauf und roten Schuhen davor, verwandelt sich die Spielerin, in das anfängliche Kind in ihr. Ein großer grauer Mantel und die Federnhaube auf der Truhe – ausnahmsweise hat sie selbst, die es mit Regisseur Lars Frank in Erfurt (Theater Waidspeicher) entwickelte, für die Ausstattung gesorgt.
Der Schwan blickt sozusagen auf die eigene Geschichte zurück, die sie uns miterleben lässt. Im Wesentlichen hält sie sich an die übersetzte Originalversion von „Den grimme Ælling“ (Andersens dänischer Titel), verknappt nur an manchen Stellen, so hat die Hauptfigur nur drei statt sechs Geschwister.
Frauke Jacobi spielt zurück bis vor die Geburt des Schwans, lässt uns die Langeweile der Entenmutter beim Brüten spüren. Ach dieses besonders große, graue Ei! Und dann noch das. „Groß, grau, hässlich!“ entfährt ihr ein Stoßseufzer, als eeeendlich dieses Ei bricht und kein gelbes, niedliches Küken entschlüpft.
Arger Empfang
Perspektivenwechsel. Nun sind wir auf Seiten des Neugeborenen, das solchermaßen unerwünscht empfangen wird. Ein bisschen versöhnlicher stimmt es die Mutter nur damit, dass es sofort schwimmen kann – im Gegensatz zu den Geschwisterchen.
Doch ständig am Entenhof ungut angegangen, haut das „hässliche junge Entlein“ ab. Versteckt sich im Wald unter viel Laub, erlebt wie der großgoscherte Jadvogel abgeschossen wird, landet in einem Waldhäuschen, wo eine Alte, die es aufnimmt, weil sie ebenfalls hässlich ist. Doch als Lohn für die Aufnahme will die, dass das „Entlein“ Eier legt. „Was nutzt du mir sonst?“ Das kann der Enterich nicht. Also wieder weg. Nach langem Schlaf erwacht das vermeintliche Entlein es als Schwan, was es erst gar nicht merkt, erst das Spiegelbild in der Wasseroberfläche macht die Veränderung bewusst. „So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das hässliche Entlein war!“, heißt es bei Andersen.
So wie sich die Figur entwickelt, so wandlungsfähig erweist sich Jacobis Truhe. Hochgestellt wird sie zum Waldhäuschen samt ausfahrbarem Rauchfang, mit Fensterchen samt Vorhängen. „Nur“ aufgeklappt enthält sie den Ententeich samt echtem Wasser. Aus dem zugeklappten Deckel klappt die Spielerin gegen Ende noch die bunte Frühlingswiese auf...
Eine spezielle Erwähnung verdient sich noch die superböse knallrote wuschelige französische Ente, mit der Frauke Jacobi ihr damals noch hässliches Entlein konfrontiert und der sie wie all ihren Figuren jeweils unterschiedliche Sprachfärbungen verleiht.
Begrenzen wir unseren Horizont?
Zufällig am Vorabend des Starts von „Ocean Cleanup“ endete der Herbstteil des 30. „Luaga & Losna“- Theaterfestivals für junges Publikum mit einem assoziativen (Klein-)Kinderstück, in dem hauchdünne Kunststofffolien zwischen Müll und faszinierendem Spielzeug pendeln.
Cordula Nossek (Dachtheater) schlängelt sich zu Beginn des knapp mehr als halbstündigen Stücks „Wo Himmel und Meer das Blau tauschen“ (Regie und Dramaturgie: Florian Drexler) zwischen den Publikumsreihen mit zwei kofferähnlichen Plastiktaschen in Richtung Bühne. Und reagiert schon dabei auf unterschiedliche Reaktionen der jungen und jüngsten Zuschauer_innen. Die Bühne dominiert ein großes Bild – im oberen Drittel himmel-, im unteren ein dünkleres Meeresblau. Der Horizont zieht hier eine klare Trennungslinie. Auf die steht auch die als schräge Touristin agierende Schau- und phasenweise auch Figurenspielerin. Mit einem Stück Kreide zieht sie klare Grenzen: „Alles mein’s!“ – und das fast den ganzen Strand umfassend. Einen langen Plastikfolienberg wirf sie zunächst achtlos weg – später wird sie daraus ein Segel spannen.
Unter dem Folienberg entdeckt sie ein kleines (Möwen-)Ei – die heftigen Lacher im Publikum gingen darauf zurück, dass damit beim Festival – unabgesprochen und ungeplant – in jedem Stück ein Ei mitspielte. Fast zärtlich rettet die ansonsten gar nicht so einfühlsam wirkende „Touristin“ das kleine Ei. Auch das Zerbrechen der Schale bedauert sie gefühlvoll. Mit dem Ei-Insaßen, geschlüpft in einer der Plastiktaschen, spielt Nossek zunächst imaginär und dann als Handpuppe, bevor sie die Möwe – der Natur zu ihrem Recht verhelfend – in die Freiheit entlässt. Als kleiner Seevogel mit ausgebreiteten Flügel taucht sie nun zweidimensional im Himmelsteil des Bildes auf.
Das alles wäre nun als Parabel für den Schutz der Natur und gegen das „böse“ Plastik der Künstlerin aber definitiv zu platt. Wenngleich vielleicht gar nicht so selten mit schlechtem Gewissen, sind wir voll von Plastik umgeben, finden es oft praktisch(er), nicht selten auch schön und faszinierend. Und so spielt Cordula Nossek, der nun als Touri zu heiß geworden ist, mit einer Windmaschine, für die sie sich Strom von einer Würstelbude holen muss, was ihr nochmals den Gang durch die Publikumsreihen eröffnet. Die große Folie von vorhin wird zum windgeblähten Segel, die bekannten dünnen Einkaufssackerln – mit Luft gefüllt und zugebunden – verwandelt sie in schwebende Quallen. Und davon bekommt auch jedes Kind am Ende eines. Dieses Spiel geht übrigens, so die Theaterfrau im Gespräch nach der Vorstellung, auf eine Idee ihres damals 11-jährigen Sohnes Fela zurück. Der hatte diesen Einfall beim Spiel während einer Improvisation in der Entstehungsphase dieses Stücks seiner Mutter.
Vielleicht landen irgendwann einige dieser Quallen im „Great Pacific Garbage Patch“ (Großer Pazifischer Müll-Fleck) zwischen Kalifornien und Hawaii. Dorthin fuhr am Tag nach diesem Stück ein Schiff des Projekts „Ocean Cleanup“. Ein mehr als einen halben Kilometer langes Kunststoffrohr einer U-förmigen Anlage mit einem 3-Meter-Tiefgang wird Tonnen von Plastikmüll einsaugen, der danach recycelt wird. Vor acht Jahren hatte der damals 16-jährige Boyan Slat (Niederlande) diese Idee. Mittlerweile arbeitet ein 70-köpfiges Team an der Umsetzung. Nach dem ersten Einsatz, der nun startet, sollen fünf Dutzend solcher Plastikmüll-Sauger im Pazifik einsammeln.
„Wo Himmel und Meer das Blau tauschen“ verbindet das immer wieder zu Staunen führende Spiel mit Objekten mit mindestens einer weiteren Ebene für die erwachsenen (Begleitpersonen) über Natur und den Umgang der Menschen mit ihr, mit Grenzen innerhalb derer sich die Protagonistin selbst einsperrt – (un-)bewusst gewählte Einsamkeit.
Und für beide Gruppen spielt sie mit dem Bild vom Horizont und der alle Grenzen überfliegenden Möwe vielleicht sogar jene Sehnsucht an, die Antoine de Saint-Exupéry in „Die Stadt in der Wüste“ so auf den Punkt bringt: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Natürlich nicht nur die Männer ;)
"Tierisches" Festival mit Eiern
Nach der Eröffnung des Festivals mit „Fliegende Kuh“ folgte die Niederländisch-Schweizerische Koproduktion von „Shubunkin – der Fisch im Mond“, tags darauf „Der Gesang des Krokodils“ und schließlich eine Version des klassischen Märchens „Das hässliche Entlein“. Und selbst bei Don Quijote lockte der den Knappen Sancho Panza, die auf Buch und Esel reiten, mit der Aussicht auf eine eigenes Ei-Land. Und in "Wenn Himmel und Meer das Blau tauschen" schlüpft eine Möwe aus einem Ei.
Das Festival im Vorarlberger Feldkirch ebenso wie der Frühsommerteil in Nenzing zeichnet sich auch dadurch aus, dass am Abend nach den Vorstellungen intensive Gesprächsrunden mit den Theaterleuten stattfinden und läuft noch bis 7. September 2018.
Zu einem Blog mit Kritiken aus dem Workshop für Jungkritiker_innen geht's https://luagalosna.blogspot.com/