Zwei-Klassen-Medizin: Für Kinder fehlen Therapieplätze
Von Ernst Mauritz
Vor 15 Jahren sorgte das Buch „Weggelegt: Kinder ohne Medizin?“ für Aufsehen: Renommierte Kinderärzte schrieben, dass „die Kindermedizin in Österreich krank gespart wird“. Aus der Autorengruppe ist die Plattform „Politische Kindermedizin“ hervorgegangen – ein Verein engagierter Kinder- und Jugendmediziner sowie anderer im Kinder- und Jugendbereich tätiger Berufsgruppen. Anlässlich ihrer Jahrestagung zieht der Obmann der Politischen Kindermedizin, Kinderarzt und Kinderpsychiater Ernst Tatzer, ehemaliger Leiter des Heilpädagogischen Zentrums Hinterbrühl, NÖ, Bilanz.
KURIER: Wenn Sie die Situation heute und vor 15 Jahren vergleichen – hat sich etwas verbessert?
Durchaus. So gibt es heute zumindest einige niedergelassene Kinderpsychiater mit Kassenvertrag. Es entstehen Zentren für Kinderrehabilitation. In Niederösterreich zum Beispiel ist das Angebot von Ergotherapie auf Kassenkosten deutlich ausgeweitet worden – das ist wirklich ein wichtiger Schritt vorwärts. Auch in anderen Bundesländern verbessert sich das Therapieangebot zumindest punktuell. Die Einstellung in der Gesellschaft hat sich geändert, das Bewusstsein für die Notwendigkeit, Entwicklungsprobleme zu behandeln, ist gestiegen. Trotzdem gibt es ein großes „aber“.
Ernst Tatzer: Und was ist dieses „aber“?
Leider sind wir noch nicht an dem Punkt, wo man sagen könnte: Jedes Kind, das eine spezielle Gesundheitsleistung benötigt, bekommt diese auch in der entsprechenden Zeit – und das kostenfrei. Davon sind wir weit entfernt. Im Gegenteil: Insgesamt hat sich die Gesamtsituation eher verschlechtert, es geht auch bei den Kindern stark in Richtung Zwei-Klassen-Medizin. Davon betroffen sind vor allem jene rund zwanzig Prozent der Kinder in Österreich, die mit ihren Familien unter oder an der Armutsschwelle leben.
Ich kenne Fälle, wo Eltern auf einen kostenfreien Therapieplatz in Österreich ein Jahr oder länger warten. Bei einem zweijährigen Kind ist das die Hälfte seiner bisherigen Lebenszeit, bei einem Vierjährigen immer noch ein Viertel. Da wird einem bewusst, wie viel wertvolle Zeit für die Förderung der Entwicklung unwiederbringlich verloren geht. Dabei ist es heute möglich, mit kompetenten Therapeuten und Pädagogen sehr vieles aufzuholen. Bei Autismus etwa: Für Kinder mit Schwierigkeiten im sozialen Kontakt und der Kommunikation haben wir heute sehr gute Möglichkeiten, sie frühzeitig zu unterstützen und ihnen so zur Kommunikation zu verhelfen – aber da muss dann auch das Angebot vorhanden sein.
Wie groß ist der Bedarf?
In Österreich erhalten Kinder und Jugendliche – in Prozent der jeweiligen Altersgruppe gerechnet – wesentlich weniger Therapien auf Kassenkosten als in Deutschland. Das gilt für Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie, aber auch für Psychotherapie. Hätten wir einen Versorgungsgrad wie in Deutschland, müssten rund 88.000 Kinder und Jugendliche mehr in Behandlung sein als es derzeit sind. Ein neueres Problem ist überdies, dass auch die Versorgung mit einem Kassen-Kinderarzt nicht mehr in allen Regionen gesichert ist: Denn es gibt zunehmend Kinderärzte, die die Arbeit im Spital oder einer Wahlarztpraxis der überfüllten Kassenpraxis vorziehen.
Was ist der Grund für den Mangel an Therapieplätzen?
Das Thema unserer Tagung lautete, „Wer hat die Verantwortung, wer nimmt sie wahr?“ – und das ist der Gordische Knoten: Es gibt so viele unterschiedliche Kompetenzen und Verantwortlichkeiten im Gesundheitssystem, dass der Ball ständig hin- und hergeschoben wird. Diese Mechanismen führen dazu, dass Menschen, die grundsätzlich ethische Einstellungen haben, Entscheidungen treffen müssen, die ihrer Haltung widersprechen. Es mangelt auch an einer Vernetzung zwischen Gesundheits- und Schulsystem. Auch das braucht Ressourcen, die vielfach fehlen.
Welche Konsequenzen hat das ganz konkret?
Es gibt einen Wettbewerb um das Angebot an kassenfinanzierten Therapieplätzen. Und den gewinnen die, die schneller wissen, wo man sich hinwenden muss. Die ärmsten Familien sind das meist nicht. Wenn durch politische Entscheidungen finanziell schwachen Familien noch weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, werden die Kinder das als Erste spüren. Sie können nicht entscheiden, ob ihre Eltern es sich leisten können, Therapie privat zu bezahlen. Dabei habe ich selbst oft erlebt, wie man etwa verhaltensauffälligen Kindern mit Aggressionen helfen kann, ihre Kraft positiv einzusetzen– das verändert ihr ganzes Leben.