Vea Kaisers fabelhafte Welt: Leben in der Großstadt
Von Vea Kaiser
Das Landkind in mir hatte noch nie so sehr das Gefühl, in einer urbanen Großstadt zu leben, wie heute Morgen. Als ich auf den Hausflur trat, lag dort, quer über die Stiegen ausgebreitet, ein Junkie. Piercing zwischen den Augenbrauen, Tätowierungen am Hals, die verbliebenen Zähne braun und die Lippen blau. Ich schrie vor Schreck auf. Der Hund hingegen sprang ihm schwanzwachelnd auf die Brust und schleckte ihm die Ohren ab.
Da er sich nicht rührte, fiel ich auf die Knie, kontrollierte seine Atmung, und schüttelte ihn wie einen staubigen Teppich. Endlich regte er sich. „Geht es ihr gut?“, fragte er. „Wem?“ – „Dem netten Mädchen!“ Es stellte sich heraus, dass der junge Mann mit meiner neuen Nachbarin um die Häuser gezogen war. Er schlief nun vor ihrer Tür, weil sie Ängste geäußert hatte, dass ihr Lebensgefährte nicht besonders positiv reagieren würde, wenn sie erst um sieben Uhr Früh nachhause käme. Weil der Junkie nicht weichen wollte, ehe er wusste, ob sie wohlbehalten war, klopfte ich schließlich. „Aber sei vorsichtig“, sagte er. „Der Typ ist brutal!“ „Keine Sorge, ich kann Kampfsport“, log ich. „Gut“, sagte er und versteckte sich. Ich klopfte lange, doch nichts geschah. „Was machen wir jetzt?“, fragte er. „Du gehst zu dir schlafen und ich mit dem Hund spazieren!“, antwortete ich. „Aber ich muss sie beschützen!“ Der Junkie konnte kaum stehen, und wog, wenn überhaupt, 45 kg. Der Nachbar hingegen war ein Kampfkoloss. Ich überredete den Junkie schließlich, der Nachbarin, deren Namen er genau so wenig wusste wie ihre Handynummer, eine Postkarte zu schreiben. Und versprach ihm, am Abend mit ihr zu reden. Daraufhin zog er beruhigt von dannen. Ich verblieb irgendwie gerührt. Denn ist es nicht schön, dass in einer urbanen Großstadt, in der sogar die Junkies im Hausflur liegen, die Menschen trotzdem aufeinander schauen?
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