Leben

Sokrates, schöner Vogel!

Man muss nicht einsam sein, wenn man allein ist – und man kann auch einsam sein, wenn man nicht allein ist. So erlebte es der Graupapagei Sokrates.

Der Graupapagei Sokrates wohnte in der Wichtelgasse in Wien-Ottakring, er gehörte meinem Vater. Er flog ab und zu eine gemächliche Runde durch die Wohnung, meistens aber saß er auf einem Bücherregal und beobachtete die Welt.
Ich weiß nicht, ob es an den Büchern im Regal lag, aber Sokrates lernte ausgezeichnet sprechen. Sein Lieblingssatz war „Sokrates, schöner Vogel!“, er sagte ihn ständig und und putzte sich dabei stolz das Gefieder.

Sokrates beherrschte außerdem Geräusche, etwa das Klingeln des Telefons, und zwar so täuschend, dass man abhob, was Sokrates sehr zu amüsieren schien. Sokrates konnte zudem Stimmen imitieren, sein Lieblingsspaß war es, den Hund mit der Stimme meines Vaters zu rufen und das verwirrte Tier dann vom Bücherregal aus wie ein Sturzkampfbomber zu attackieren.

Eines Tages erfuhr mein Vater, dass es Tierquälerei sei, einen Papagei alleine zu halten, und erwarb einen zweiten Vogel. Sokrates sprach von diesem Moment an kein Wort mehr und verfiel. Er wirkte apathisch, fraß wenig, und versuchte stets, den größtmöglichen Abstand zu dem neuen Papageien einzunehmen, der ein wenig dümmlich wirkte und ihm sichtlich unsympathisch war. Freude an der Situation hatte nur der Hund, denn Sokrates hatte jede Lust an Sturzkampfattacken verloren.

Eines Tages wurde der neue Papagei krank, starb und kippte von seiner Sitzstange. Sokrates neigte den Kopf, blickte mit einem Auge auf den toten Artgenossen, richtete den Kopf wieder auf und putzte sein Gefieder. Danach sagte er sehr zufrieden „Sokrates, schöner Vogel!“ und sprang aus der Volière, den Hund jagen.