Leben

Wien wirklich

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„Prüfe dein Gewicht“ stand auf dem mannshohen Kasten im Stadtpark. Wenn man den Großeltern 10 Groschen abbettelte und sich auf das Podest der Personenwaage stellte, spuckte der Automat ein Kartonkärtchen aus, auf dem das Körpergewicht aufgedruckt war. Das war die dezente Variante, bei der kein neugieriger Passant mitschauen konnte. „Es gibt nur Waagen. Nur Waagen gibt es“, hatte schon der Schriftsteller Joseph Roth vermerkt.

Und das in der Stadt der Phäaken, wo man sich das Schnitzerl und sein Bratl stets besonders gut schmecken ließ. 1888 wurde erstmals eine öffentliche Personenwaage, produziert von der Firma Schember, aufgestellt. Im Prater bei der großen „Jubiläums-Gewerbe-Ausstellung“ anlässlich von Kaiser Franz Josephs 40-jährigem Regierungsjubiläum. Und erst in 1950er-Jahren. Wien wurde modern, Münzautomaten boomten, und bald stand an jeder belebten Ecke so ein Ungetüm. Heute sind sie nur noch Kuriosität und eine Fußnote in der Stadtgeschichte, die der Historiker Peter Payer in seinen kulturhistorischen Streifzügen festgehalten hat.

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Es sind diese und andere Dinge des Alltags, die die Geschichte und das Gesicht einer Stadt ausmachen und die den Menschen die Stadt zur Heimat machen. Zum Beispiel der Winter, als die Donau verschwand, und den viele von uns nur vom Hörensagen kennen. Es war im Jahr 1929. Wegen der anhaltenden extremen Kälte barsten Gas- und Wasserleitungen. Die Donau floss unter einer dicken Eisschicht, die sich nur langsam und kaum merklich bewegte. An den Ufern schichteten sich kantige Eisblöcke übereinander, es knackte, knisterte und krachte. Die Eisblöcke spalteten sich und bildeten neue, bizarre Formen. Schließlich hatte sich ein mächtiger Eisstoß aufgebaut, der von Hainburg bis Kritzendorf reichte, später sogar bis Tulln und Krems. Ein Gletscher mitten in der Stadt. Eine Sensation! Schaulustige kamen, um das Ereignis zu bestaunen. Die Gasthäuser am Strom machten Umsatz wie nie. Und am 12. Februar schlugen die kühnen Mitglieder des Vereins „Verkühle dich täglich“ bei der Reichsbrücke ein Loch ins Eis und mehrere Männer und Frauen tauchten in die bitterkalten Fluten. Zur Abhärtung, wie Arzt und Vereinsobmann Karl Georg Panesch propagierte.

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Etwa um die gleiche Zeit, zwischen den beiden Weltkriegen, wurde Wien zur „Lichterstadt“ – Robert Stolz’ Schlager gibt Zeugnis davon ab: „Wien wird schön erst bei Nacht“: Die Inbetriebnahme der 5.000. elektrischen Lampe im Jahr 1926 – in der Kalvarienberggasse in Hernals – wurde gefeiert, der Leucthkörper festlich geschmückt. Von da an ging es schnell. 1936 gab es bereits 32.400, doppelt so viele wie Gaslampen. Doch nirgends war es so hell wie in der Innenstadt und in den großen Einkaufsstraßen, der Mariahilfer Straße und der Praterstraße. Wegen seiner Effektbeleuchtung wurden der Hochstrahlbrunnen am Schwarzenbergplatz und das weithin sichtbare Riesenrad im Prater zu neuen Wahrzeichen der Stadt.

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Wien wurde nicht nur heller, es wurde auch lauter. Das hatte vor allem mit dem wachsenden Verkehrsaufkommen zu tun. Diese Entwicklung lässt sich wunderbar an der Opernkreuzung ablesen, wo Ring und Kärntner Straße einander schneiden und wo seit jeher das Leben der Stadt pulsierte.

Vom Verkehr umtost, erlangte so ein Mensch Ende der 1950er-Jahre lokale Berühmtheit: der Verkehrspolizist Karl Schmalvogl, auch „Karajan der Opernkreuzung“ genannt. Er wies Autos und Fußgänger in ihre Schranken. So prominent war er, dass Verkehrsteilnehmer ihm sogar Geschenke brachten. Später heiratete er die Opernsängerin Ljuba Welitsch. Nicht minder bekannt war sein Kollege Josef Lukits, der an der Kreuzung Babenbergerstraße/Burgring Dienst versah und „Toscanini von der Babenberger Kreuzung“ genannt wurde. 1955 wurde die Opernpassage eröffnet, die Verkehrsströme entwirrten sich. Aber das ist eine andere Geschichte.Waren es im ausgehenden 19. Jahrhundert noch Pferdetramways, Kutschen und Fußgänger, so steigerte sich das Gewühl vor allem durch die zunehmende Zahl von Automobilen dramatisch. 1926 wurde hier Wiens erste Verkehrsampel installiert. Eine Neuerung, deren Sinnhaftigkeit nicht gleich von allen verstanden wurde. So wurde damals in Fahrschulbüchern folgende Frage erörtert: „Was bedeuten die roten, gelben und grünen Lichtsignale auf der Opernkreuzung in Wien?“ 1951 wurden bereits 42.000 Fahrzeuge täglich an der Opernkreuzung gezählt, 80 Unfälle pro Jahr ereigneten sich.

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Waren es im ausgehenden 19. Jahrhundert noch Pferdetramways, Kutschen und Fußgänger, so steigerte sich das Gewühl vor allem durch die zunehmende Zahl von Automobilen dramatisch. Ohne Körpereinsatz, mit Ampeln allein, ließ sich das Chaos nicht meistern.

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Peter Payer, „Unterwegs in Wien – Kulturhistorische Streifzüge

Mit einem Vorwort von Peter Patzak, Czernin Verlag, 264 Seiten, 23 €.

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