Leben

Sotschi: Machtspiele

Auch Diktatoren müssen manchmal weinen. Sogar der gnadenlose Josef Stalin. Oft tat er dies in seiner Datscha in Sotschi. In den 1930er-Jahren ließ er sich die Villa im Grünen Wäldchen errichten, ausgestattet mit Schwimmbad, einem Arbeitszimmer, einem Spielzimmer mit Billardtisch und einem eigenen Kinosaal. Dort ließ er sich Filme vorführen – allein. Denn niemand sollte den „Generalissimus“ dabei beobachten, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Ansonsten verbrachte er in Sotschi oft die Sommer, ging auf die Jagd und versuchte, seinen körperlichen Beschwerden mit dem heilkräftigen Schwefelwasser beizukommen.

Stalin ist mittlerweile Geschichte. Seine Villa steht noch, und wer in die Olympiastadt kommt, kann sie besichtigen. Das Arbeitszimmer, an dessen Schreibtisch Stalin sitzt – als lebensgroße Wachsfigur – ein Ledersofa, eine silberne Schreibtischgarnitur, die Mao einst seinem Freund Stalin schenkte, der Billardtisch.
Dass die Stadt am Schwarzen Meer nach wie vor ein beliebter Kurort ist, hat sie auch ihrer Lage zu verdanken. An der Ostküste des Schwarzen Meeres, in Russlands sonnigem Süden, fast auf dem gleichen geografischen Breitengrad wie Rom. Bis in den Herbst hinein herrscht Badewetter, das milde, subtropische Klima heizt das Meer im August auf wohlige Badewannentemperaturen von bis zu 27 Grad auf. Die Sommer sind lang und heiß, die Winter nicht allzu kalt und relativ kurz. An der Küste gedeihen Palmen, Hibiskus und Zitronen. Genau wie am Mittelmeer.

Hinter der Stadt in der Region Krasnodar erheben sich die Dreitausender-Gipfel des Westkaukasus, der zum UNESCO-Weltnaturerbe zählt. Sotschi liegt inmitten eines riesigen Nationalparks. 300.000 Hektar ist das Biosphärenreservat des Westkaukasus groß. Und so manches erinnert an unsere Alpen.

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Eine Hochgebirgslandschaft mit Gletschern, viel Wald und Almwiesen, auf denen je nach Jahreszeit Enzian, Heidelbeeren, Kornblumen und Glockenblumen wachsen. Dachse und Füchse sagen einander hier gute Nacht, es gibt Bären und Wölfe. Und das mächtige kaukasische Wisent, das bis zu 1.000 Kilo schwer werden kann. Beinahe wäre es ausgestorben. Das letzte Exemplar dieses Verwandten des Auerochsen wurde im Jahr 1927 von Jägern erlegt. Doch zum Glück hatte der Zar 1908 dem Hamburger Zoo Hagenbeck einen Wisentbullen geschenkt. Mit seinen Nachfahren wurde die heutige Wisent-Population gezüchtet.

Das heilkräftige Wasser, mit dem auch Stalin seine den kalten sibirischen Wintern geschuldete Arthritis behandeln ließ, sprudelt noch immer. Dieses Wasser ist es auch, das Sotschi zu dem werden ließ, was es immer noch ist: Einer der beliebtesten Kurorte der Russen. In Macesta wurden die schwefelhaltigen Quellen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Heute wird das Wasser, das angeblich 150 Krankheiten heilen kann, aus bis zu 3.000 Meter Tiefe heraufgeholt. Auch für Trinkkuren wird es verwendet und in Flaschen abgefüllt. „Essentuki“ oder „Plastunksaja“ heißen bekannte Marken, die so berühmt sind, dass Betrüger sogar mit Fälschungen gute Gewinne machen.
1909 wurde das erste große Hotel in Sotschi eröffnet, ein luxuriöser, riesiger Jugendstil-Komplex, der den Namen „Kaukasische Riviera“ trug. Die vielen eleganten Gebäude im neoklassizistischen Stil prägen heute noch das Bild der Stadt. Zuerst war das elegante Sotschi mit seiner ausgedehnten Uferpromenade, dem Rivierapark, den Palmen Treffpunkt der Reichen. Später wurden die Hotels und Sanatorien verstaatlicht, und auch das Volk der Sowjetunion und befreundeter Staaten tummelte sich fortan am Schwarzmeerstrand und ließ sich das Leibgericht der Region schmecken: Schaschlik, die marinierten Fleischspieße. Groß genug für alle ist der Strand ja. 150 Kilometer reicht die Küste rum Sotschi bis Adler im Süden.

Das kommt dem russischen Hang zur Größe entgegen, der jetzt bei den Olympischen Spielen von 7. bis 23. Februar erst recht ausgelebt wird. Es werden Spiele der Superlative, vor allem, was die Kosten betrifft: So teuer war Olympia noch nie. An die 40 Milliarden Euro, so lauten die aktuellen Kostenschätzungen, gut das Vierfache der Summe, von der bei der Vergabe der Spiele vor mehr als sechs Jahren die Rede war. Bagger und Baumaschinen fuhren auf, es wurde geklotzt und nicht gekleckert. An der Küste, südlich von Adler, entstand der Olympiapark mit dem Olympia-Stadion für 40.000 Zuschauer (Eröffnung und Abschlusszeremonie), mit dem Wintersport-Palast Eisberg (Kunstlauf, Schnelllauf) der Adler-Arena (Eisschnelllauf), dem Bolschoi-Eispalast, der aussieht, wie ein riesiger Wassertropfen (Eishockey), dem Curling-Zentrum der Eisarena (Eishockey), dem Trainings- und dem Medienzentrum.

40 Kilometer von der Küste entfernt, in den Bergen rund um Krasnaja Poljana, wurden Sprungschanzen errichtet, die Anlagen für Langlauf, Rennschlittensport und das Alpinzentrum in Rosa Chutor. Dazu bauten die Veranstalter eine Eisenbahnstrecke und eine Autobahn, um die Spielstätten miteinander zu verbinden. Sogar für den in diesen Breiten gar nicht so unwahrscheinlichen Fall, dass die Natur nicht rechtzeitig genügend Schnee liefern würde, hat man vorgesorgt: Unter Planen versteckt wurden schon den ganzen Sommer über Schneemassen gelagert. Der Schnee von gestern, sozusagen.
Ein Denkmal zu Lebzeiten für Präsident Putin. Zar Wladimir lässt sich feiern.
Gleichzeitig wird Sotschi zur Festung. 60.000 Uniformierte, Helikopter, Drohnen, sogar U-Boote sollen für Sicherheit sorgen – allen Terrordrohungen zum Trotz.
Von den Protesten gegen seine Politik zeigt Putin sich unbeeindruckt. Auch davon, dass zahlreiche Staatsoberhäupter der pompösen Eröffnungszeremonie fern bleiben und US-Präsident Barack Obama Tennis-Legende Billie Jean King, eine bekennende Lesbierin, als Vertretung schickt.
Wenn Putin sich doch darüber ärgern sollte, lässt er sich seine Emotionen nicht anmerken – wie einst Stalin in seinem Privatkino.