Leben

Liebe Lust und Laster

Der Chef der Kommune ist Maler. Er hat eine Mission. Er möchte die Menschen aus der prüden, spießbürgerlichen Welt befreien. Er sammelt Jünger um sich und zieht mit ihnen in einen abgelegenen Bauernhof. Prominente und Künstler sind von seiner Weltanschauung fasziniert. Zu seinem Programm gehörte die Nacktheit als Teil einer guten Lebensführung. Die Jünger hatten sich um das Wohlergehen des Meisters zu kümmern. Der praktizierte die freie Liebe, unterhielt mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig und auch der Sex mit Minderjährigen war kein Tabu. Die Praktiken innerhalb der Kommune waren auch Inhalt eines Gerichtsprozesses.
Was klingt, als wäre es eine Beschreibung des Lebens von Otto Mühl und seiner Kommune, spielte sich in Wien schon am Ende des 19. Jahrhunderts ab. Der Hauptdarsteller: Karl Wilhelm Diefenbach. Der aus Hessen stammende Maler mit dem Vollbart und den langen Haaren hüllte sich in wallende Gewänder und sah sich als Heilsbringer. In Bayern als „Kohlrabi-Apostel“ verspottet und im ersten deutschen Nudistenprozess vor Gericht, siedelte er sich mit seinen Jüngern am Himmelhof in Ober-St.Veit an und gründete dort so etwas wie die erste Hippie-Kommune von Wien. Zu den Bewunderern seiner Thesen über die „naturgemäße Lebensweise“, die er im „Paradeiser-Paradies“ in Hietzing praktizierte, zählten Egon Schiele oder Hermann Hesse. Und auch die spätere Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner gehörte zu Diefenbachs Förderern. Dass der Narzisst mit Messias-Allüren seine zwölfjährige Tochter mit einem Freund verkuppelte, blieb ausgeblendet. Heute erinnert noch eine Gasse im 15. Bezirk an den ersten Kommunarden Diefenbach.

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Lust und Laster gediehen im alten Wien ziemlich üppig, nicht nur in der Kommune am Himmelhof. Nach außen wurde zwardie bürgerlich-sittsame Fassade gewahrt. Doch die bürgerliche Moral hatte einen doppelten Boden, und darunter brodelte es gewaltig. Oder wie Stefan Zweig es in seinem Erinnerungswerk „Die Welt von Gestern“ formulierte: „Denn nur das Versagte beschäftigt das Gelüst, nur das Verbotene irritiert das Verlangen, und je weniger die Augen zu sehen, die Ohren zu hören bekommen, um so mehr träumen die Gedanken.“
Vor allem Frauen hatten sich der strengen Sexualmoral zu unterwerfen. Die Jungfernschaft war höchstes Gut und in der Ehe erwartete man von ihnen absolute Treue und Hingabe. Den Männern wurden Seitensprünge hingegen großzügig verziehen.
Ein Klima, in dem sich Prostitution wunderbar entwickeln konnte. Schon im 14. Jahrhundert wurden „Frauenhäuser“ erwähnt, die in Wirklichkeit Bordelle waren. Schließlich war man überzeugt, dass der Geschlechtstrieb der Männer stärker sei und ausgelebt werden müsse. Die Prostituierten mussten ein Schultertuch in Gelb, der Farbe der Schande, tragen. Die Herren konnten die Dienste der Frauen bisweilen sogar bargeldlos in Anspruch nehmen. Ein zuvor erworbener Holzstab, der mit Kerben versehen war, wurde Stück um Stück gekürzt, bis nichts mehr „auf dem Kerbholz“ war. Unliebsamen Gunstgewerblerinnen ging es bei weitem schlechter. Bis in Maria Theresias Zeiten wurden Prostituierte in der Donau bei der Schlagbrücke, der heutigen Schwedenbrücke, ertränkt.
Ihre Kunden blieben unbehelligt. Es sei denn, sie zogen sich eine Krankheit zu. Auch Giacomo Casanova, der sich mehrfach in Wien aufhielt, war in Sorge. Während er den Gebrauch von aus Tierdarm gefertigten Kondomen, genannt „English Overcoats“, propagierte, machte er sich über die Wiener Männer lustig: Die schmierten ihr bestes Stück mit einer Speckschwarte ein, um sich gegen Syphilis zu schützen.
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Trauriger Höhepunkt der Scheinmoral war die von Maria Theresia berufene „Keuschheitskommission“, zu deren Präses sie den Jesuiten Ignaz Parhamer machte. Der fromme Mann legte bei den Auspeitschungen unkeuscher Frauen selbst Hand an, diese waren dabei sogar im Winter nackt. Sie waren gefesselt, ihnen wurden die Haare geschoren, die Köpfe geteert. Für die Wiener war es eine beliebte Sonntagsbelustigung, dem Martyrium der gefolterten Frauen zuzusehen. Der scheinheilige Kirchenmann Parhamer wird heute noch mit einem Platz in Hernals geehrt.
Nicht weniger scheinheilig ging es im Biedermeier zu. Da engagierten adelige Herren den Maler Peter Fendi und ließen sich von ihm statt lieblich-süßer Familienszenen deftige Pornografie zeichnen. Die Körpermerkmale der Dargestellten entsprachen zwar kaum der Realität und die Figuren schafften es mitunter sogar, die Schwerkraft zu überwinden, dafür waren aber alle Details umso deutlicher erkennbar. Auch Peter Fendi, man ahnt es schon, ist eine Gasse gewidmet, diesfalls in Margareten.
Weit weniger harmlos war das, was Aloys Wenzel Fürst von Kaunitz-Rietberg, der Enkel von Maria Theresias Kanzler, trieb. Er lebte seinen Hang zu kleinen Mädchen hemmungslos aus, viele davon Mitglieder des Horschelt’schen Kinderballetts. Es dauerte lang, bis es dem Kaiser endlich zu bunt wurde. Er ließ den Kaunitz, Kaiserlicher Gesandter zu Rom, der sich dort pikanterweise um kirchliche Angelegenheiten kümmern sollte, vom Dienst suspendieren. Der aber ließ sich nicht bremsen und die Mädchen nicht in Ruhe. So lang, bis Jahre später die Polizei bei ihm klopfte und neben zahlreichen Adressen von Opfern auch Dosen mit betäubendem Tabak fand. Drei Monate dauerte der Prozess gegen ihn, 200 Zeuginnen wurden geladen, manche erst zehn, elf Jahre alt. Fürst Metternich erwirkte die Haftentlassung seines Schwagers und Kinderschänders und Kaunitz wurde nach Mähren verbannt. Was er dort trieb, ist nicht mehr aktenkundig. Und die Kaunitzgasse in Mariahilf ist immerhin nicht nach ihm, sondern seinem Großvater benannt.
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Schon lange vor Conchita Wurst sorgten Männer in Frauenkleidern für Aufsehen. Prominentester Vertreter war Erzherzog Ludwig Viktor Joseph Anton, dem später der Spitzname „Luzivuzi“ verpasst wurde. Er war der Nesthäkchen-Sohn von Sophie von Bayern, Kaiserin Sisis Tante. Der verwöhnte Bub war nicht sehr ansehnlich, das Heiratsprojekt mit Kaiserin Elisabeths jüngerer Schwester Sophie scheiterte. Ludwig Viktor soll ein Verhältnis mit einem Fiaker gehabt haben und war nicht immer berechenbar: Im Prater sprang er eines Tages aus seiner Kutsche, lief auf einen gut aussehenden jungen Mann zu und machte ihm ein eindeutiges Angebot. Ein Offizier, der von Luzivuzi ebenfalls angebaggert worden war, wehrte sich handgreiflich. Die Geschichte von dieser Watschenaffäre machte die Runde durch die Stadt. Und auch Luzivuzis Passion, bei Laientheateraufführungen Frauenrollen zu spielen und sich in Frauenkleidern ablichten zu lassen, missfiel dem Kaiserhaus zunehmend, das „missratene“ Familienmitglied wurde schließlich nach Salzburg verbannt.
Nicht nur für schwule Männer, auch für lesbische Frauen gab es im Wien des 19. Jahrhunderts beliebte Treffpunkte: Das Café Tirolerhof etwa, oder das Pratergasthaus Eisvogel mit seiner Damenkapelle. Den Frauen wurde ihre Neigung meist leichter verziehen – nicht aus Toleranz, sondern weil diese die erotischen Fantasien mancher Männer beflügelte. Und in diesem Fall war es schon immer leichter, die öffentliche Moral etwas zu beugen.