Leben/Gesellschaft

Polyamorie: Wie das Beziehungskonzept funktioniert

Polyamorie ist ein Kunstwort, das sich als Viel-Liebe oder Mehrfachliebe übersetzen lässt, und bezeichnet eine Lebensform, bei der dauerhafte Liebesbeziehungen zu mehreren Menschen bestehen. Diese beruhen auf Vertrauen und setzen vor allem auf Werte wie Ehrlichkeit, Offenheit und Einverständnis aller Beteiligten. Polyamorie ist eigentlich so alt wie die Menschheit selbst, wurde jedoch lange als Gegenbewegung zur Monogamie und somit als gesellschaftliche Randerscheinung gesehen  seit 2007 kommt der Begriff allerdings immer öfter in den deutschsprachigen Medien vor. Schätzungen gehen davon aus, dass nur 0,1 Prozent der Bevölkerung sich zu ihren polyamorösen Beziehungen bekennen, bis zu fünf Prozent jedoch poly veranlagt sind, sich jedoch nicht trauen, diese Lebensform auch auszuleben.

Fast jede zweite Ehe wird geschieden – mangelnde Treue ist oft einer der Hauptgründe dafür. Inwiefern kann ein polyamores Beziehungssystem auch für ein harmonischeres Zusammenleben mit vielen Freiheiten sorgen?

Conny Maikisch: Die durchschnittliche Ehe dauert ca. zehn Jahre. Jeder zweite erwachsene Österreicher hat Erfahrung mit Seitensprüngen gemacht und jeder fünfte lebt eine Parallel-Affäre. Wissenschaftlichen Studien zufolge sind zwei Hauptgründe für das Fremdgehen ein nicht erfülltes Sexualleben sowie ein Nicht-beachtet-Werden durch den Partner. In polyamoren Systemen wird aufgrund der hohen Reflexionsbereitschaft offener über Bedürfnisse und somit auch Wünsche das Sexualleben betreffend gesprochen. Meiner Meinung nach ist diese Tatsache viel relevanter für das Bestehen langfristiger Beziehungen als der Treueaspekt.

Evolutionsforscher sind der Meinung, dass der Mensch nicht zur Monogamie gemacht sei. Wie sehen Sie das?

Ich finde die Beobachtungen vom Psychologen Christopher Ryan sehr spannend, dem es die Bonobons, eine dem Menschen genetisch am ähnlichsten Menschenaffenart, angetan haben. Bonobos lösen ihre Probleme mit Geschlechtsverkehr. Sie lieben Versöhnungs- und Entspannungssex. Sie küssen einander, halten Händchen, liebkosen sich, haben Oralsex. Fakt ist, Bonobos leben wesentlich friedlicher miteinander. Ryan meint, dass Menschen ebenso wenig monogam sind wie Bonobos und monogame Ehen zu Frustration und Enttäuschungen führen. Meine Erfahrung in der Beratung ist jene, dass die wenigsten Menschen, die sich für monogame Beziehungen entscheiden, diese selbst auferlegte Einschränkung auch tatsächlich umsetzen. Wie bereits in der vorigen Antwort erwähnt, geht jeder zweite Österreicher irgendwann fremd. Jeder soll meiner Meinung nach aber für sich reflektieren und entscheiden, ob ein nicht-monogames oder monogames Beziehungsmodell für ihn passend ist.

Welche Unterschiede gibt es da zwischen Männern und Frauen?

Laut einer Studie der Oxford Universität aus dem Jahr 2015 gibt es tatsächlich mehr nicht-monogame Männer als Frauen, allerdings ist der Unterschied deutlich geringer als angenommen. Während 57 Prozent der Männer nicht-monogam sind, beträgt der Prozentsatz bei Frauen 47.

Polyamorie wird von manchen als Gegenentwurf zum Fremdgehen gesehen. Inwiefern stimmen Sie dem zu?

Cheating“, das sogenannte Fremdgehen, sind sexuelle Kontakte, welche außerhalb einer monogamen Beziehung stattfinden und nicht konsensual sind. Der Unterschied zur Polyamorie ist hier der Faktor, dass beim „Cheating“ die sexuelle Interaktion nicht mit dem Wissen aller Beteiligten erfolgt, sondern heimlich. Polyamor lebende Menschen sprechen bei ihrer Lebensform explizit von ethischer, einvernehmlicher, verhandelter Nicht-Monogamie. In polyamoren Beziehungssystemen geht es nicht nur darum, dass „Fremdgehen“ sozusagen erlaubt wird, sondern um weitaus mehr. Das Augenmerk von polyamor-lebenden Menschen liegt üblicherweise nicht bei kurzen Seitensprüngen, sondern im Anstreben von mehr als einer tiefen, emotionalen Liebesbeziehung zur gleichen Zeit. Das heißt jedoch nicht, dass jemand, der polyamor fühlt, zwingend mehr als eine Beziehung eingehen muss. Es geht erstmal nur um die Möglichkeit, sich in mehrere Menschen gleichzeitig verlieben zu „dürfen“ und mit ihnen Beziehung eingehen zu können.

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Und wie sieht es mit der gesellschaftlichen Akzeptanz zu dieser alternativen Beziehungsform aus?

Da es in den vergangenen Jahrzehnten durch z. B. die längere Lebenserwartung, hohe Scheidungsraten, gesellschaftliche Gleichstellung der Frau, Unzufriedenheit mit serieller Monogamie usw. zu Veränderungen im Beziehungs- und Sexualverhalten gekommen ist, treten immer mehr alternative Formen, Beziehungen zu führen – neben der klassischen Monogamie – ans Licht. Meiner Meinung nach kommt es daher zu immer mehr gesellschaftlicher Akzeptanz non-monogamen Beziehungsformen gegenüber.

Welche Werte sind in polyamoren Beziehungen besonders wichtig?

Für das Gelingen dieser sehr anspruchsvollen Beziehungsform sind Freiheitsliebe, Toleranz, Flexibilität und Verantwortung Voraussetzungen. Weiters wird ein hoher Reifegrad, emotionale Stärke und Kommunikationsfähigkeit in hohem Ausmaß benötigt. Daneben sind ebenfalls hochgeschätzte Werte in polyamoren Konstellationen Treue, Vertrauen und Verantwortung. Bezüglich Verantwortung wird die Idee von „responsible non monogamy“ vertreten. Dies meint so viel, wie einen gemeinsamen Konsens festzulegen, Grenzen und Emotionen der Partner zu respektieren, versuchen, keine absichtlichen Verletzungen herbeizuführen und mit Informationen, das Beziehungssystem betreffend, offen umzugehen.

Welche Rolle spielt die Eifersucht in polyamoren Beziehungen?

Eifersucht bzw. der Umgang mit dieser ist ein zentrales Thema in polyamoren Beziehungskonstellationen. Gründe für Eifersucht können sein: die Sorge, die Position bei einem geliebten Menschen könnte sich durch eine dritte Person verändern. Außerdem spielt auch der Gedanke mit, nicht mehr der Beste für den geliebten Menschen zu sein. Verlustangst ist auch ganz wesentlich für das Entstehen von Eifersucht. Persönliche Probleme, den eigenen Selbstwert betreffend, können ebenfalls zu Eifersuchtsreaktionen führen. Für den Umgang mit hochkommender Eifersucht zeigt es sich als hilfreich, Gespräche zu führen, sich über die Befindlichkeiten auszutauschen und Verständnis zu zeigen bzw. zu bekommen.

Wie wichtig sind Vertrauen und Offenheit?

Vertrauen ist ein hochgeschätzter Wert bei polyamor lebenden Personen. Meiner Meinung nach können polyamore Beziehungen auf Dauer nur mit einem erheblichen Ausmaß an Vertrauen, Kommunikation, Einfühlungsvermögen, Respekt und Ehrlichkeit funktionieren.

Sind es eher junge Menschen, die sich ausprobieren oder wer ist eigentlich polyamor?

Laut Befragungen und Studien leben vor allem Personen aus intellektuellen, akademischen Kreisen dieses non-monogame Beziehungssystem, was vermutlich am hohen Reflexionsgrad liegt, den diese Form Beziehung zu leben voraussetzt. Die Seite polyamorie.de gibt weiters hierzu an, dass am ehesten Personen zwischen 30 und 50 Jahren polyamor leben und eine weite Bandbreite an sexuellen Orientierungen (Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle, etc) innerhalb der polyamoren Community zu finden ist.

Für die meisten wäre es undenkbar, die Zeit für mehrere Beziehungen aufzubringen. Wie schaffen es polyamor lebende Menschen, mit dem Stress umzugehen?

Das Ressourcenmanagement ist eine der größten Anforderungen an die Beteiligten. Mit wem verbringe ich wann wie viel Zeit? Wem schenke ich wie viel Aufmerksamkeit? Es verlangt den jeweiligen Personen viel ab, eine gerechte Zeitaufteilung hinzubekommen. Es dreht sich alles um die zentrale Frage: Wer trifft wen, wann, wo, wie oft, warum? Eine große Gratwanderung ist es in diesem Zusammenhang, dafür zu sorgen, selber nicht auf der Strecke zu bleiben, in der Sorge darum, dass es den anderen gut geht. In einem größeren Geflecht kann das Ressourcenmanagement derart aufwendig sein, dass für soziale Beziehungen außerhalb der Konstellation wenig oder keine Zeit bleibt.

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