Viennatherapy mit Hut
Von Christian Seiler
Ich gehe entlang dem Donaukanal unterhalb der Spittelauer Lände, als mir eine sonderbare Gestalt entgegenkommt. Ein Mann mit Hut, seine dunkle, schlanke Silhouette wäre nicht weiter auffällig, wohl aber sein Gang: Er geht, wie eine Kerze flackert. Seine Schritte haben dieselbe vage Unruhe, die eine Kerzenflamme verströmt, wenn von irgendwo ein leises Lüftchen weht.
Gehen ist ja das Esperanto der Körpersprache: Oft siehst du einem Menschen schon auf den ersten Blick an, wie es ihm geht, wenn er geht.
Du siehst die ungeduldige Souveränität des Vielgehers, der eine gewisse Geschwindigkeit erreichen muss, um in Balance zu sein. Du erkennst das schüchterne Suchen des Rekonvaleszenten, der sich gerade erst wieder ins Freie wagt. Du erkennst den vergnügten Illuminierten, der nach einer reichen Mahlzeit seinen Bauch breitbeinig Richtung Taxi schiebt, und du diagnostizierst recht schnell, ob der Schwankende vor dir eher ein Rückenproblem hat oder sich ein wenig beim Spritzwein zurückhalten sollte.
Als der Typ mit dem Hut näher kommt, bemerke ich, dass er spricht. Es ist ja kein ungewohnter Anblick mehr, dass Menschen auf der Straße anwesend und abwesend zugleich sind, weil sie sich über ihre Freisprechanlage mit irgendwem im Irgendwo unterhalten.
Aber der Typ mit dem Hut ist nicht verkabelt. Ich kann jetzt seine Augen sehen, in denen sich das Flackern des Gangs wiederfindet. Ich kann nicht hören, was er spricht, nur dass er spricht, und dass es einen Grund zum Streiten gibt, auch wenn kein Zweiter da ist.
Ich gehe oft den Donaukanal entlang. Nirgendwo sonst haben es sich Natur und Urbanität in Wien so gleichberechtigt nebeneinander eingerichtet. Wenn ich bei der Endstation Heiligenstadt aus der U4 aussteige und von der Heiligenstädterbrücke die Hühnerleiter zur Promenade hinuntersteige, muss ich zwar ein paar Minuten den Lärm der Donaukanalstraße ertragen, dafür werde ich mit dem absurden Schattenriss der Hundertwasser-Müllverbrennung entschädigt und den schönen Graffitis an der alten Stadtbahnmauer, wo ein genialischer Sprayer dem alten Professor Freud den Schädel aufgeschraubt hat, um einen Eindruck davon zu vermitteln, was hinter der ernsten Fassade der Psychoanalyse stecken könnte: ein grinsendes, gut gelauntes Skelett.
Unmittelbar bevor der Mann, der mit sich selbst streitet, auf gleicher Höhe mit mir ist, lüftet er seinen schwarzen Hut, bedenkt ihn mit einem abschätzigen Blick und schleudert ihn mir vor die Füße. Ohne sich umzudrehen geht er weiter, beschleunigt den Schritt, und die Haare, die unter dem Hut verlegt gewesen waren, stehen jetzt wie ein Atompilz von seinem Kopf ab.
Zuerst bin ich erschrocken, bücke mich reflexartig nach der verschmähten Kopfbedeckung und will dem Mann schon nachrufen, dass er etwas verloren hat, obwohl er sich ja nur von etwas befreit hat: Denn im selben Augenblick trifft mein Blick das explodierende Gehirn, das der Sprayer dem Professor Freud an der Stadtbahnmauer zugedacht hat. Es hat genau dieselbe Form wie die Frisur des Mannes ohne Hut. Jetzt verstehe ich auch den Titel des Bildes: „Viennatherapy“. Man muss sich nur den Kopf frei machen.