Meine Lust zu gehen
Von Christian Seiler
Ich gehe, weil ich will, nicht weil ich muss. Ich habe eine Jahreskarte für die Wiener Verkehrsbetriebe und einen alten Volvo, der an einem trockenen Ort steht und jederzeit anspringt, wenn man ihn braucht. Auch mein Führerschein ist gültig und in meinem Besitz.
Aber ich ziehe es vor zu gehen.
Ich gehe zu Fuß in die Arbeit und zu Terminen. Ich gehe zu Fuß einkaufen (wenn ich nicht gerade zwei Kisten Wein holen muss, aber die kommen in der Regel zu mir) und ins Kino oder ins Wirtshaus (wenn das Wirtshaus nicht zu mir kommt).
Meistens gehe ich aber einfach nur, weil ich will. Dann verlasse ich das Haus und füge mich in eine Kette aus binären Entscheidungen, die links oder rechts heißen. Damit bin ich eines Tages in der hintersten Ecke von St. Marx gelandet und wurde von einer Delegation der Telekom mit einem sehr wichtigen Gast verwechselt, auf den offenbar so dringend gewartet wurde, dass mir auf dem Parkplatz vor dem Domenig-Bau ein Geschwader von Abteilungsleitern mit ausgestreckten Händen entgegeneilte. Ich konnte den Irrtum zwar aufklären, aber erst, nachdem ich ein Dutzend Hände geschüttelt hatte. In was für Situationen einen das primitive Links-Rechts-Schema manchmal bringt.
Zuerst waren es Gründe, die gegen die Benützung anderer Verkehrsmittel sprachen (wobei, angesichts der anderen: Bin ich denn selbst ein Verkehrsmittel? Ich für mich? Meine Beine für meinen Rumpf? Mein Kopf mit seinen komischen Ideen für den komischen Rest? Wird alles noch zu klären sein).
Der Permastau in Wien ließ die Einsicht reifen, dass die im Stop-and-Go-Verkehr vertrödelte Lebenszeit sich besser nützen lässt als mit der Betrachtung ständig aufleuchtender Bremslichter vor mir und dem Angebot des Sexshops in der Schönbrunner Straße, wo ich eine Zeitlang immer, jeden Tag, im doppelten Rotlicht zu stehen kam und der Werbung für Paris Hiltons schönste Ansichten ins Auge sehen musste, bis ich fast enttäuscht war, als das Programm wechselte.
Und die U-Bahn ist eben die U-Bahn, wo ich nicht nur von Wien-Mitte nach Ottakring komme, um den Wilheminenberg zu besteigen, sondern auch erfahre, was McDonald’s gerade im Sonderangebot hat und wofür es am Handy Freisprechanlagen gibt (damit Lisa und Damir frei von der Leber weg miteinander telefonieren können).
Außerdem hatte meine Lust zu gehen Jahre lang einen Verbündeten im schwarzen Pelz: meinen Hund Barolo, über den in diesem Blatt von 1997 bis 2011 jede Woche etwas zu lesen war. Der Barolo spazierte gern, auch zu unkonventionellen Zeiten, zum Beispiel im Morgengrauen, wenn ihn primäre Bedürfnisse dazu motivierten. Und auch wenn ich nach seinem Ableben davon abgesehen habe, um fünf Uhr früh in Pyjama und Regenjacke durch Wien Mitte zu schlapfen, so blieb doch der Wunsch, tief durchzuatmen und den Körper in Bewegung zu setzen, um diese Bewegung wenigstens eine Zeitlang fortzusetzen, jedenfalls so lange, bis ich nicht mehr anders konnte.
Aso a dog ganz ohne geh – um es frei nach André Heller zu sagen – des is ka dog.