Leben/Gehen

Kleine Schritte in Drosendorf

Ich gehe um die Stadtmauer von Drosendorf. Drosendorf ist eine kleine Stadtgemeinde im Waldviertel, Bezirk Horn, 1.226 Einwohner, sitzt auf einer Felsnase und wird als einzige österreichische Stadt auch heute noch von einer vollständig erhaltenen Stadtmauer umgeben. Die
Thaya umfließt das Städtchen mit einer gewagten Schlinge, so dass Drosendorf wie ein gewaltiges Schiff hoch über dem Wasser schwebt.
Ich steige am Horner Tor in den „Erlebnisweg Sommerfrische“ ein, und bewege mich im Uhrzeigersinn um das trutzig über mir liegende Städtchen. Auf Hinweisschildern lerne ich, dass es die Grafen von Pernegg waren, die hier zwischen 1170 und 1200 eine Marktsiedlung befestigten, und dass sich die doppelten Wallanlagen schon bald darauf bewährten, als der böhmische König Ottokar II. in seinem Feldzug gegen die Habsburger 16 Tage lang gegen die Mauern, die ich gerade passiere, anrannte. In besagter Schlacht verlor Ottokar Kontrolle und Leben, und der große Stoff für Franz Grillparzer war bereitet.
Heute säumen die Stadtmauer kleine Gärtchen mit Obstbäumen. Eine Lindenallee fordert dazu auf, langsam zu gehen – „nehmen Sie sich eine Minute Zeit bis zum nächsten Stamm“ –, worauf ich das versuche, aber kläglich scheitere: Die Linden sind nur fünf oder sechs Meter voneinander entfernt gepflanzt, so dass ich entweder gehen kann oder stehenbleiben muss.
Wie denn jetzt? Sechs Meter, das sind ungefähr neun Schritte. Also einen Schritt machen und dann sechs Sekunden stehenbleiben? Oder vier Schritte machen und 50 Sekunden warten? Schrittchen machen wie die sieben Zwerge (ich bin 1,92, Mann!)?
Ich schlage also das gut gemeinte Angebot in den Wind, ich weiß ja, was es mir sagen will: Verlier dich hier, streif die Eile ab, genieß den Augenblick, carpe diem.
Damit bin ich ja eh einverstanden, Sommerfrischetafel, aber ich mach es so: Weil ich mich für ein paar Tage im Schloss Drosendorf eingemietet habe – kenne keine tollere Kombination aus Prunk und Bodenhaftung; wer es schafft, Zimmer acht zu mieten, wird verstehen, was ich meine; in besagtem Zimmer steht übrigens ein alter Betstuhl, dort könnt ihr mir für den Tipp danken –, gehe ich diesen Weg jeden Tag, gleich in der Früh.
Sehe, wie die Stadtmauer im Gegenlicht der aufgehenden Sonne reifern glitzert. Höre die Buntspechte im Grenzwald drillen. Begegne mit meinem Leihhund Lili – großartig, wie der Hund beim Schnuppern an den Bäumen das eigene Geschäft verrichtet; als ob er auf dem Klo liest – anderen Regulars, die man ab dem zweiten Mal vertraut grüßt. Sehe, wie sich der Lichteinfall minimal verändert. Genieße die Kälte der Nacht, wenn sie sich störrisch, aber unaufhaltsam der Wärme des Frühlingsvormittags ergibt.
Die Wahrnehmung all dessen erfolgt aus dem Augenwinkel. Die Sensation ist die Vertrautheit: das leichte Ansteigen des Wegs, der Sound der Bäume, das Erleben des bereits Erlebten, das Empfinden der feinsten Unterschiede und die Freude daran.
Das ist Gehen, wie ich es liebe.
christian.seiler@kurier.at