Leben/Gehen

Ein Lamm, eine Mutter, ein Pongauer Schakal?

Ich gehe die Kaiser Wilhelm-Promenade entlang, schenke den leeren Schaufenstern keine Bedeutung, so wie ich dem abgefuckten Stadtzentrum Bad Gasteins nicht die geringste Aufmerksamkeit gewidmet habe, dem Kongresszen-trum, dem früheren Luxushotel Straubinger, dessen Fenster mich wie leere Augenhöhlen anstarren, würde ich bloß zurückstarren.

Auch schlendere ich etwas später an der Abzweigung zum „Haus Hirt“ vorbei, wo die schönste Bar der Alpen auf mich warten würde, aber ich gehe weiter, weil mich das jüngst ausgebrochene Gastein-Wunder um Haus Hirt, Friedrich Liechtenstein, Hotel Regina und Hansi, Hansi! gerade ebensowenig ablenkt wie das seit ewigen Zeiten grassierende Fiasko um das Stadtzentrum.

Ich habe mir nämlich vorgenommen, den Gasteiner Höhenweg zu bewandern, der auf der Sonnenseite des Gasteinertals auf halber Höhe liegt, etwa tausend Meter hoch, plusminus, Blick aufs Tal und die Eisenbahntrasse am Gegenhang, auf der jeder Zug aussieht wie freundlicherweise von Märklin zur Verfügung gestellt.

Ich passiere das Café Gamskar und nehme Tempo auf. Längst weiß ich, dass diese Wanderung nicht nach innen gewandt sein wird. Zuerst sehe ich ein eben geschlüpftes Lamm mit extrakrummen Hörnern, noch ganz rosa unter der Wolle, jede Menge Sooo-lieb-Potenzial.

Während ich noch darüber nachgrüble, ob sich krumme Hörner eines Tages auswachsen, überhole ich eine Mutter, die ihren Einjährigen auf einem flotten Schlitten über den Weg schiebt. Das pfeift, wenn der Weg schneebedeckt und eisig ist, wirkt aber ein bisschen artfremd, wenn der Schlitten im Gatsch steckenbleibt. Zwei Hunde sind auch mit von der Partie, was mich zur zwangsoriginellen Frage motiviert, warum eigentlich nicht sie den Schlitten ziehen.

„Weil“, antwortet die Schlittenmama mit strengem Blick auf den einen der beiden, „dieser hier das Geschirr gefressen hat.“ Ah eh.

Etwas später, am Zaun eines Damwildgeheges, sehe ich im Gegenlicht ein riesiges Tier mit Kojotenohren. Ich betrachte das Wesen nicht ohne alarmiertes Erstaunen. Ist das ein entflohener Esel? Ein Pongauer Schakal?

Aber es ist viel aufregender. Als das Tier bemerkt, dass es von mir beobachtet wird, teilt es sich kurzerhand in der Mitte und wird zu zwei Menschen, die so tun, als würden sie die Rehe beobachten. Dann macht es sich aus dem Staub.

Ich bin gewarnt. Ich gehe weiter, passiere den Hinweis, dass dieser Weg im Winter nicht gewartet wird (die Schlittenhundfrau wird an dieser Stelle verächtlich lachen, wenn sie den Schlitten bis hierher gezerrt hat) und finde mich plötzlich in der ziemlich abenteuerlichen Felslandschaft der Gadaunerer Schlucht wieder, wo der Weg durch dunkle Felstunnels führt, die plötzlich, als ich sie betrete, ballsaalmäßig illuminiert sind, stranger than paradise.

Das Ende des Wegs befindet sich übrigens beim Café Gamskar (und es ist ein anderes Café Gamskar. Bad Gastein und Bad Hofgastein haben je eines). Wer abergläubisch ist, soll vor der Wanderung ein Brot mit fein geschnittenen Knoblauchzehen verzehren.

christian.seiler@kurier.at