Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Jahresringe

Ich gehe durch das Bermudadreieck, das seltsam verwaist ist. Keine entgrenzten Halberwachsenen, die zwischen Runden an Jägermeister und Wodka Red Bull auf der Straße noch schnell einen Joint durchziehen, damit sich der Abend lohnt; niemand, der seine Stimmbänder trainiert, indem er mit vielen Vokalen einen Wiener Fußballklub aus Hütteldorf lobt; keine jungen Girls, die auf viel zu hohen Schuhen vom Klo gestöckelt kommen, wo sie die letzte Runde Shots gerade dem Abwassersystem zurückgegeben haben.

Ich ertappe mich dabei, das gar nicht unangenehm zu finden. Augenblicklich habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich weiß, die armen Wirten, die jetzt keinen Schnaps an Kinder verkaufen können, die Bierkellner, Toastköche und Schnapsglasabwäscher, die gerade in Kurzarbeit sind, die Security-Stiernacken, die niemanden abweisen oder durchschütteln können. Bald werden sie alle wieder ihren Berufen nachgehen, und vielleicht erinnert sich dann außer mir noch jemand daran, wie friedlich das Bermudadreieck sein kann.

Sogar der Innenminister, der seine Kiefer so schlecht auseinanderbekommt, wäre gerade stolz auf mich.


Über mir ein makelloser, blauer Himmel. Keine Flugzeuge, keine Kondensstreifen, die also auch niemand für Chemtrails halten kann, schon wieder jemand arbeitslos. Ich gehe die Seitenstettengasse hinauf, die Touristen fehlen, daher ist genug Platz auf der Straße, um vorschriftsmäßig distanziert zu spazieren. Sogar der Innenminister, der seine Kiefer so schlecht auseinanderbekommt, wäre gerade stolz auf mich.

Ich biege in die Judengasse ein, Richtung Hoher Markt. Auf Nummer vier fällt mir dieses winzige Haus auf. Es ist maximal vier Meter breit, nahezu das gesamte Erdgeschoß wird von einem zweiflügeligen Tor in Anspruch genommen, darüber zwei Stöcke, wo sich gerade einmal zwei schmale Fenster nebeneinander ausgehen.

Das Interessanteste aber ist das Straßenschild, das auf Höhe des ersten Stocks an der Fassade befestigt ist. Es sagt nicht „Judengasse“, sondern „Lazenhof“, und natürlich ist das in dieser wohl geschichtsträchtigsten Ecke Wiens ein unverkennbarer Hinweis auf Jahresringe, die mir bis dato verborgen geblieben waren.

Der Lazenhof, benannt nach dem Arzt und Historiker Wolfgang Lazius (1514 bis 1565), schuf im Mittelalter eine Verbindung vom alten Kienmarkt zum Rotgassel und verknüpfte den mittelalterlichen Marktplatz zwischen Ruprechtskirche, Judengasse, Seitenstettengasse und Marc-Aurel-Straße mit dem Rotgassel, der Wallgasse an der Stadtmauer. Im Lazenhof residierten einige Wiener Bürgermeister. Bei zahllosen Umbauten wurden kostbare archäologische Überreste der ehemals römischen Besiedlung verbaut. Im 19. Jahrhundert ließ Graf Hoyos-Sprinzenstein den historischen Lazenhof abreißen und ersetzte ihn durch einen Neubau – den Hoyoshof –, der auch nur bis 1910 stehen blieb, als der Durchbruch unterhalb der Ankeruhr zum Bauernmarkt das Grätzl komplett neu ordnete. Das schlichte, zweistöckige Haus mit dem klingenden Namen auf Nummer vier hat also eine Menge zu erzählen. Jetzt wäre es still genug, um die Geschichte zu vernehmen.