Christian Seilers Gehen: Ich sehe, was ich nicht sehe
Von Christian Seiler
Ich stehe an der Invalidenstraße im dritten Bezirk. Hinter mir macht sich die rostrote Fassade der Mall von Wien Mitte breit, und vor mir befinden sich drei voluminöse Häuser, die – geteilt von zwei kleinen Nebengassen, der Ditscheiner- und der Grailichgasse – die ganze Breite zwischen Landstraßer Hauptstraße und
Marxergasse einnehmen.
Ich beobachte einen Hund, wie er die Begrünung der Garagenabfahrt unter der Mall dazu benützt, um sich zu erleichtern.
Ich sehe das Wettstudio beim Café Savoy, vor dem ein paar Typen stehen und rauchen – haben sie gerade ihr ganzes Geld verloren oder werden sie es erst verlieren? Ich sehe den glücklichen Buben, der mit einem überdimensionalen Luftballon in Form einer 6 das Luftballongeschäft verlässt, alles Gute zum Geburtstag. Ich beobachte einen Hund, wie er die Begrünung der Garagenabfahrt unter der Mall dazu benützt, um sich zu erleichtern.
Mehr als das, was ich sehe, interessiert mich, was ich nicht sehe. Kein Anzeichen mehr von dem Haus, nach dem diese Straße benannt ist. Das Invalidenhaus war ein zweistöckiger Monumentalbau, der die gesamte Breite zwischen Landstraße und Marxergasse einnahm und 1787 für versehrte Militärs eröffnet wurde. Der Komplex des Pflegeheims, wo ein strenges militärisches Regime geherrscht haben soll, reichte weit über die heutige Untere
Viaduktgasse hinaus stadtauswärts, und für die Position, von der aus ich das Ensemble gerade betrachte, hätte ich seit dem Jahr 1804 ein Boot oder wenigstens einen Schwimmreifen gebraucht: Auf dem Areal des heutigen Bahnhofs Wien Mitte befand sich nämlich damals der Hafen des Wiener Neustädter Kanals.
Heute liegen tausend Tonnen Beton zwischen der Ansicht von damals und der neuen Realität.
Das Invalidenhaus war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Betrieb. Erst 1909 wurde es wegen Baufälligkeit abgerissen. Das Hafenbecken war inzwischen längst zugeschüttet, der Wiener Neustädter Kanal in die Bahntrasse der Verbindungsbahn verwandelt worden, die vor dem Invalidenhaus in Hochlage kreuzte. Der Abriss des gewaltigen Invalidenhauses samt Peripherie machte Platz für eine neue Verwendung. Die Untere Viaduktgasse wurde bis zur Landstraße verlängert, zwei Quergassen entstanden, und auf dem Gelände entstanden fünfgeschoßige Zinshäuser in Formen der Wiener Werkstätte mit neoklassizistischen Anklängen, die bis heute hier stehen.
Ich gehe einmal um den Block, ein zweites Mal. Ich umrunde den Komplex von
Wien Mitte, dann überquere ich den Wienfluss und betrachte die Situation noch einmal von der Innenstadtseite der Stubenbrücke aus. Mit einem Bild in der Hand, auf dem das brandneue Invalidenhaus hinter der Agrarlandschaft des Glacis zu sehen ist, versuche ich mir die Stadt vorzustellen, wie sie war und wie sie wurde. Heute liegen tausend Tonnen Beton zwischen der Ansicht von damals und der neuen Realität, und ich überlege mir, warum das eine Haus Bestand hat und das andere verschwindet, wie schnell und wie massiv sich eine Straße, ein Ort, ein Ensemble verändern und welche Zufälle wohl dafür entscheidend sind. Einzig die Kirche von St. Elisabeth stand und steht schön und wissend dort, wo die Invaliden litten und die Hafenarbeiter vor ihrer Schank standen und ihr Geld vertranken.
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