Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: „Grüßen musst du, egal wen"

Zuletzt streifte ich wieder einmal durch das Fasanviertel im dritten Bezirk. Ich bin immer wieder fasziniert, wie die Stadt alle paar Häuserblöcke ihr Gesicht verändert. Zuerst, am Schwarzenbergplatz, ging ich an prächtig verzierten Gründerzeithäusern vorbei, hohe Fenster, prächtige Beletagen, hier hat sich eine Botschaft eingemietet, dort ein Immobilienmakler, dann, Mitte Rennweg, wurde das Dekor ein bisschen zurückhaltender, die Häuser begannen einander ähnlich zu schauen, und als ich dann zwei, drei Häuserblöcke lang nicht genau hinschaute, sondern meinen Gedanken nachhing, wofür sich das Gehen in der Stadt ja besonders gut eignet, befand ich mich plötzlich in einer etwas weniger prächtigen Umgebung und merkte, dass mich ein Herr im ersten Stock, der gerade Urlaub am offenen Fenster machte und das mit einer selbstgedrehten Zigarette und einem bunten Getränk zelebrierte, ziemlich genau beobachtete.

Der Herr – mehr als sein Feinrippleiberl konnte ich an seiner Adjustierung leider nicht ausmachen – nickte, ohne sein Gesicht zu verziehen.


Ich dachte daran, was mir meine Großmutter als Hilfe in jeder Lebenslage beigebracht hatte – „Grüßen musst du, egal wen, Hauptsache grüßen …“ – und grüßte freundlich hinauf in den ersten Stock. Der Herr – mehr als sein Feinrippleiberl konnte ich an seiner Adjustierung leider nicht ausmachen – nickte, ohne sein Gesicht zu verziehen und hob sein buntes Getränk um vielleicht einen halben Zentimeter, hoch genug, um mich mit dieser freundlichen Geste seinerseits fröhlich und dankbar zu stimmen.

„Das hat die Oma gut gewusst mit dem Grüßen“, dachte ich und beschloss, mein Glück künftig nicht nur auf ebener Erde, sondern auch im ersten Stock zu suchen, und gerade als ich diese Erkenntnis zur „Weisheit des Tages“ ernannte und in die Stanislausgasse einbog, erblickte ich ein überdimensionales Kreuz, auf dessen Querbalken die Botschaft „Jesus unsere Hoffnung“ stand. Haushoch.

Gleich daneben aber stand eine Kirche, oder soll ich sagen: ein Kirchlein? Hätte ich ein Gotteshaus dieses Formats über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen angetroffen, ich wäre nicht verwundert gewesen. Aber hier, mitten im dicht verbauten Stadtgebiet wirkte das ebenerdige Gebäude, dessen Turm man bequem von oben betrachten kann, wenn man im zweiten Stock Ferien am Fenster macht, etwas unterdimensioniert und, halt, was stand dort über dem Eingang?

Konnte ich nicht entziffern. Ich musste mich erst schlaumachen, auf den ersten Blick hätte ich nicht erkannt, dass es sich um koreanische Schriftzeichen handelt, die den Eingang zur presbyterianisch-koreanischen Kirchengemeinde Wiens schmücken. Diese kleine Gemeinde hatte das Kirchlein 1987 von der Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. Wien-Landstraße übernommen, auf deren Auftrag die Kirche erst 1948 errichtet worden war – und ich bin nicht sicher, ob es die Koreaner oder die Evangelischen waren, die ihren hoffnungsfrohen Stoßseufzer auf die benachbarte Feuermauer platziert haben.

Egal. Als Kommentar hatte jemand „Wir sind die Kaufkraft“ dazu gesprayt, und über diesen merkwürdigen Zusammenhang musste ich auf dem Rückweg erst einmal nachdenken.

christian.seiler@kurier.at