Leben

Fotograf Christian Tagliavini: Meister der Magie

"Ich versuche, Menschen zum Hinschauen zu bewegen“, sagt Christian Tagliavini. Der Fotograf und Grafikdesigner, Architekt und Zeitreisende aus der Schweiz verblüfft und fasziniert die Mode-, Lifestyle und Kulturwelt seit gut zehn Jahren zu gleichen Teilen.
Und ja, er bringt die Menschen zum Hinschauen. Denn seiner schwelgerischen Ästhetik kann man sich nicht so leicht entziehen. Schwelgerisch? Oder doch vielleicht surreal? Melancholisch? Es ist nicht ganz einfach, Tagliavinis Bildern ein geeignetes Adjektiv zu verpassen. EIN Adjektiv.

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„Es geht darum, den Betrachter dazu zu ermutigen, sich nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden zu geben“, erklärt der Meister der Inszenierung weiter. „Es geht nicht nur um die Oberfläche, egal, wie üppig, glanzvoll, extravagant oder vielleicht auch traurig sie ist. Wer ein zweites oder drittes Mal hinschaut, sich Zeit nimmt, wird Details entdecken, eine Geschichte, die er zu seiner machen kann, wenn er sich darauf einlässt.“  Eine Geschichte, die ganz einfach zu dem Bild gehört, wie Tagliavini  meint, die aber nicht festgeschrieben ist: „Es ist meine, weil ich mich ihr verbunden fühle. Jeder Betrachter erzählt sie weiter. Jeder auf seine Weise.“

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Und was liegt nun unter der glanzvollen Oberfläche verborgen? Ist es ein Schatz oder ein dunkles Geheimnis, ein namenloser Schrecken? „Beides, glaube ich. In jedem Menschen kann beides sein, das Wunderbare und der Terror. Und ich glaube, dass wir völlig unterschiedliche Erfahrungen machen, auch wenn wir uns dasselbe Bild anschauen.“

So spricht kein angesagter Modefotograf, und natürlich ist Tagliavini das auch nicht, obwohl Vogue und Harper’s ihn über die Maßen lieben. Denn die einzigen Kreationen, die er fotografiert, sind seine eigenen. Jedes Kleid, jedes Kostüm, jeder Hut, Schal oder Gürtel, jedes Bändchen und jedes Tuch sind von ihm entworfen, die Stoffe persönlich von ihm ausgesucht.

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Fotograf, Designer, HandwerkerIst Tagliavini also Designer? „Ich mag es, mit meinen Händen zu arbeiten, verschiedene Materialien zu fühlen. Ihre Textur, ihre Stofflichkeit, ich liebe es, sie zu riechen oder zu hören, das Rascheln von verschiedenen Materialien etwa.“ Auch das sei Teil der Geschichte, fährt er fort, aber eben nur ein Teil. Zu kaufen gibt es seine Entwürfe auch nicht, diesem Aspekt der Industrie entzieht er sich elegant,  all die üppigen Roben und Kostüme sind flüchtig, dienen nur dem Bruchteil einer Sekunde, wenn Licht durch die Linse einer Kamera dringt und sich in Form verwandelt. 

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Berühmt machten Tagliavini vor zehn Jahren seine streng komponierten, von der Renaissance beeinflussten Aufnahmen unter dem Titel  „1503“. Wie kommt ein junger Fotograf eigentlich auf ein so altes Thema?  „Ich bin Schweizer, aber in Italien aufgewachsen, umgeben von den Werken der größten alten und antiken Künstler“, erklärt Christian  Tagliavini. „Ich war in Prato auf der Suche nach einem besonderen Stoff für ein Kleid, als ich auf die Gemälde von Filippo Lippi stieß. Sie ließen mich nicht mehr los, ich begann zu recherchieren, drang tiefer und tiefer in die Epoche ein.“

Die Serie wurde ein derartiger Erfolg, dass mit „1406“ eine zweite Epochen-Ausstellung folgte, und auch seine von Jules Verne beeinflussten Fotografien fanden begeisterten Anklang.

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Zurück in die Zukunft!Was macht die Faszination an diesen vergangenen Epochen für den Künstler selbst aus? „Die Renaissance hat einerseits die Vergangenheit, also die Antike, neu entdeckt, hat diese Erkenntnisse aber auch für kühne Visionen der Zukunft genutzt. Das Wissen einiger Menschen dieser Zeit ist überwältigend. Vieles, was wir heute kreieren und designen, wurde schon damals entwickelt, nur haben wir es vergessen.“ Und Jules Verne? „Auch das war eine Zeit  des Aufbruchs, der Visionen. Maschinen konnten alles möglich machen, davon war man überzeugt: die letzten Grenzen der Welt und des Weltalls überwinden. Man blickte mit Neugier und voller Erwartung  in die Zukunft. Eine Atmosphäre, die mich zu einigen Bildern inspiriert hat.“

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Aber Christian Tagliavini steckt seine Models natürlich nicht einfach in Renaissance-Roben, die er detailgetreu nachschneidern lässt: Er bedient sich der Vergangenheit, um sich von ihr zu lösen, etwas Neues zu schaffen, etwas, das außerhalb von Zeit und Raum steht. Genau das macht einen guten Teil der magischen Atmosphäre aus, die seine Bilder ausstrahlen. Sind es Momentaufnahmen aus einem fantastischen Theaterstück? Visionen einer fernen Zukunft? Bilder aus einem Paralleluniversum?

„Die Vergangenheit lehrt uns die Ziele früherer Generationen – und ihre Fehler. Sie  zu kennen, hilft uns die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu meistern, wenn wir aus ihr lernen. In meinen Bildern geht es nicht darum, die Vergangenheit zu kopieren. Ich zeige  eine Möglichkeit, eine Geschichte von vielen. Ist sie schon geschehen? Ja, vielleicht. Wird sie noch passieren? Wahrscheinlich“, erklärt der Fotograf.

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In seiner neuesten, bisher aufwendigsten und größten Foto-Serie „Circesque“ beschreitet Tagliavini einen neuen Weg: Er ließ sich vom Zirkus der vorletzten Jahrhundertwende inspirieren. Die Wunder der Manege, die größte Show der Welt, Attraktionen und Kuriositäten für das Publikum der industriellen Revolution, dem die biedermeierliche Beschaulichkeit nicht mehr genügte, das den ultimativen Nervenkitzel suchte. In gewisser Weise also „moderner“ war, als wir es vermuten würden.

Grandezza in der Manege

„Circesque ist Theater, Show und Entertainment“, sagt Tagliavini über sein aktuelles Werk, das ab 5. Dezember in der Berliner Galerie „Camera Work“ zu sehen sein wird. „Aber ich habe versucht, hinter die Klischees der Zirkus-Folklore zu schauen und zu zeigen, was wir normalerweise nicht über die Künstler erfahren: Die Ängste, Enttäuschungen, die vielen Male, die sie fallen, bevor sie wieder aufstehen, sich den Staub abklopfen um  dann königlich und mit dieser unnachahmlichen Grandezza in der Manege zu erscheinen und uns mit ihrer spielerischen Leichtigkeit zu verzaubern.“

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Und das ist ihm in beeindruckender Weise gelungen. Wie wurde aus dem Fotografen und Grafikdesigner Tagliavini eigentlich der Geschichtenerzähler, der er heute ist? „Bevor ich mit der Mise-en-Scene-Fotografie begann, also dem Inszenieren von Situationen, habe ich Landschaften fotografiert, Architektur, das Leben auf der Straße. Dann erkannte ich, was ich vermisse, wenn ich bloß die Realität abbilde: Meine eigene Kreativität. Also begann ich, Geschichten zu fotografieren. Meine Geschichten.“

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Wenn Tagliavinis Models nicht völlig in ihre Tätigkeit versunken scheinen, sehen sie uns oft direkt an. Die Ausstellungsstücke beobachten den Beobachter und sorgen auch damit für Irritation. Genau wie mit ihren Kostümen, die an ferne Zeiten erinnern, die wir so sicher zu kennen glaubten. Aus der Schule, aus beschaulichen Filmen, Leonardo da Vinci, Captain Nemo, der Zauber der Manege im frühen 20. Jahrhundert – alles so vertraut. Scheinbar. Denn plötzlich stimmen ein paar Details nicht mehr, wir schauen noch einmal hin, und noch einmal ...

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