Die wichtigste Stadt der Welt
Von Patrick Wollner
Der Flieger bringt einen direkt von Wien ins Land der Widersprüche – nach China. Hierher, wo Facebook und Google gesperrt sind und weder am Computer noch am Smartphone genutzt werden können. Ein kurioses Gefühl für Touristen aus Europa, kommen doch mehr als 90 Prozent aller weltweit produzierten Elektronikgeräte von hier, genauer gesagt sogar aus einer einzigen Stadt: Shenzhen.
Zwei Mal Hongkong
Die Megacity hat mit 13 Millionen fast doppelt so viele Einwohner wie ihre Nachbarstadt
Hongkong. Das war nicht immer so. Einst ein Fischerdorf, entwickelte sich Shenzhen Anfang der Achtzigerjahre, mit dem Einstieg in die Elektronik-Ära, enorm weiter. Heute ist es eine der größten Städte der Welt und hat etwas, wovon andere Metropolen nicht einmal zu träumen wagen: ein Überangebot an jungen Menschen – das Durchschnittsalter beträgt hier gerade 30 Jahre. In Europa liegt es bei über 40.
Das Alter der Einwohner entspricht auch den dort ansässigen Unternehmen: Apple lässt in Shenzhen iPhones produzieren, der weltweit zweitgrößte Handyhersteller Huawei stammt von dort, auch die Drohnen des Weltmarktführers DJI werden in dem einstigen Fischerdörfchen hergestellt.
Die ist in dieses Eldorado der
Elektronik gereist, um sich ein Bild zu machen. Von der Sonderverwaltungszone Hongkong geht es mit einem eigens dafür zugelassenen Taxi an die Grenze zu Festlandchina. Eine Grenze, die sich auch wie eine anfühlt: Fahrzeug und Insassen werden genau inspiziert, inklusive Fingerabdruck und Gepäck-Scan. Danach ist das Stadtzentrum von Shenzhen in wenigen Minuten erreicht.
Zugriff verweigert
Und schon ist man mittendrin in der Welt der Gegensätze: Die meisten chinesischen SIM-Karten sperren den Zugriff auf genau jene Dienste, die man am dringendsten brauchen würde: „
Google Maps“ und „Google Translate“. Vor allem hier, denn Shenzhen ist nicht nur riesengroß, sondern im Unterschied zur ehemals britischen Kolonie Hongkong unerfahren im Umgang mit internationalen Touristen. Die Einheimischen sind zwar ihren Gästen gegenüber sehr offen, doch Fremdsprachenkenntnisse gehören nicht zu ihren Stärken. Einfache Dinge wie Taxifahrten, die Frage nach einer Adresse oder Auskünfte über das Menü im Restaurant sind reichlich kompliziert.
Die chinesische Version von „Google Maps“ – „Baidu Maps“ – ist nur auf Chinesisch abrufbar. Das nächstbeste Lokal bucht man mit Hilfe des „WhatsApp“-Kontrahenten „WeChat“; Taxis werden über „Didi“, das chinesische Gegenstück zu „Uber“, bestellt.
Shenzhen ist in vielerlei Hinsicht überentwickelt, aber genau dadurch bleibt diese Stadt einem Europäer auch fremd. Und obwohl die Millionen-Metropole den Begriff der Globalisierung quasi lebt – nicht zuletzt als Weltmarktführer in der Produktion von
Smartphones – wird sie nur als Provinzstadt wahrgenommen.
Preiswertes Essen, teures Bier
Diese Gegensätze ziehen sich durch den gesamten Alltag des Reisenden. Wer etwa den Abend in einem Garnelen-Lokal verbringt, wird über die vorzüglichen Speisen, die sehr wenig kosten, erfreut sein und sich gleichzeitig über den hohen Preis des (unfassbar guten!) Spezialbiers Tsingtao Yuanjiang wundern. Eine Flasche kostet mit 12 Euro mehr als eine Maß am Münchner Oktoberfest.
Selbst in den Restaurants scheint niemand auch nur ein Wort einer westlichen Sprache zu beherrschen. Hier kann das Smartphone dann doch noch helfen: Eine schnelle Übersetzung mittels Übersetzungsapp reicht, um dem Kellner die richtigen Zeichen für Garnelen oder Reis zu präsentieren.
Szenenwechsel: Besuch in einem Fabrikgebäude. Hier findet eine Sommerakademie für chinesische Technikstudenten statt. Es ist Samstagmorgen, doch es wird fleißig gewerkt. Und zwar so, wie es sich in der weltweit wichtigsten Elektronikstadt gehört. Es wird gelötet, programmiert und an Robotern getüftelt. Die Studenten verbringen in Shenzhen ihre Sommerferien – und voraussichtlich auch die nächsten Jahre. Bis zu zwanzig Prozent aller Doktoranden in China verschlägt es in das „Wunder am Perlfluss“, wie die Millionenstadt in den chinesischen Medien gerne genannt wird.
Leben von un mit Elektronik
So blumig diese Umschreibung auch klingt, spätestens hier, unter den Studenten, wird klar: Shenzhen lebt nicht nur von Elektronik, sondern mit ihr. Die Leiterplatten sind gleichermaßen Quelle des Reichtums wie auch der Begeisterung – für die Menschen in einer der zukunftsträchtigsten Städte der Welt.
Auch im „Bay Stadion“ ist die Zukunft längst angekommen. An diesem Wochenende dient das Areal als Wettkampfarena für Computerspiele und Roboterwettbewerbe. „Robomaster“ nennt sich das Ereignis, an dem Studenten der technischen Hochschulen aus ganz China und aus internationalen Unis teilnehmen.
Seit fünf Jahren treffen sich hier jährlich 10.000 Studenten, um gegeneinander anzutreten. Ziel des vom Drohnenhersteller DJI organisierten Wettbewerbs ist es, Roboter zu bauen, die einander auf einem geschlossenen Spielfeld mit Ping-Pong-Bällen befeuern. Gesteuert werden die Maschinen einerseits mit menschlicher Intelligenz (der Studenten), und andererseits mit künstlicher Intelligenz (von den Studenten programmiert). Bei dem Spektakel stehen ausschließlich die Leistungen der jungen Ingenieure im Rampenlicht. Unglaublich: Eine Million Menschen schauen dabei online live zu.
Eine Million ist live dabei
Mit diesem Wettbewerb will man die nächste Generation dazu motivieren, Technologie in China selbst zu entwickeln und nicht nur zu produzieren. Teams treten im K.o.-System gegeneinander an, bis ein Gewinner feststeht. Das Finale am Sonntag im Stadion ist ausverkauft, die Stimmung ist angespannt wie kurz vor dem Abfahrtslauf des Weltcupführenden beim Hahnenkammrennen. Zur Auflockerung werden in den Spiel-Pausen die Spieler und ihre Maschinen in Kurzporträts präsentiert. Immer im Mittelpunkt: die Elektronik – wen wundert’s?
Im Gespräch mit den Gewinnern der South China University of Technology stellt sich dann heraus, dass die jungen Chinesen das Phänomen des chinesischen Wachstums nicht nur positiv sehen. Im Reich der Mitte sei die Sorge groß, dass die Jugend in Zukunft weniger Ehrgeiz an den Tag legen könnte als heute. Ein Wettbewerb wie dieser solle daher die nächste Generation für die Arbeit begeistern und weitere globale Marktführer wie DJI entstehen lassen.
Elektronik-Markt der Superlative
Diese Aussage bestätigt sich noch auf dieser Reise beim Besuch eines Einkaufszentrums. Unübersehbar: Die Konsumgesellschaft Chinas scheint sich in ein permanentes (zugegebenermaßen atemberaubendes) Shoppingerlebnis zu stürzen, das vor allem stark von europäischen und amerikanischen Markenprodukten geprägt ist. Shenzhen bietet Einkaufszentren wie das Mixc im Luohu Bezirk, mit Luxusboutiquen dicht an dicht, neben dem die meisten Shopping-Paläste in Österreich kahl aussehen.
Shopping gepaart mit der traditionellen chinesischen Marktkultur ergibt in Shenzhen eine außergewöhnliche Mischung. Vor allem im Stadtteil Huaqiangbei. Ein Spaziergang durch diesen Bezirk ähnelt auf den ersten Blick den überdachten Märkten anderer chinesischer Städte. Nur dass hier weder Fische filetiert noch „Chicken Feet“ geknabbert werden. Hier werden iPhones repariert, LED-Streifen zusammengelötet und tausende Pakete für den Export nach Europa versandfertig gemacht.
Blick in die Zukunft
Auf einer Fläche, die mit jener des Ersten Wiener Bezirks vergleichbar ist, befindet sich ein Elektronikmarkt neben dem anderen. Gebäude mit etwa sieben Stockwerken, die alles bieten, was das Herz von Gadget-Liebhabern begehrt: Egal, ob Einzelkomponenten, Widerstände oder Leiterplatten, Handys, Laptops oder gar Straßenlaternen.
Shenzhen bietet kaum historische Sehenswürdigkeiten, aber die Stadt bietet eine einzigartige Einsicht in das authentische chinesische Leben des 21. Jahrhunderts und ist wahrscheinlich das nächste Silicon Valley.
Wer sich in diesen außergewöhnlichen Großstadtdschungel wagt, sieht die Zukunft.
INFO & TIPPS
Anreise
Am besten reist man nach Hongkong und von dort weiter nach Shenzhen. Die Anreise auf dem Landweg aus Hongkong dauert mit dem Zug 60 Minuten. Alternativ kann man auch entspannter mit der Fähre in unter zwei Stunden in die Elektronik-Stadt reisen.
Visum
Für die Einreise nach China braucht man zwar ein Visum, dies kann aber auch direkt an der Grenze (ausschließlich für die Sonderwirtschaftszone Shenzhen) beantragt werden. Trotzdem wird empfohlen, dass das Visum vor der Abreise aus Österreich beantragt wird.
Abseits der Technik
Neben der Elektronik ist Shenzhen auch für seine Wellness-Oasen bekannt. Mit 800 Massageräumen und über 40.000 m² Fläche ist das „Queen Spa“ eine günstige Alternative zu den Wellnesstempeln in Hongkong.