Leben

Die Entdeckung der Unerschrockenheit

Wer nach allen Seiten hin offen ist, ist nicht ganz dicht.“ Schöner Spruch aus Berlin nach dem Mauerfall. So kam Arnold Mettnitzer daher, irgendwann am Haashaus-Stammtisch im Do & Co, Anfang der 2000er-Jahre. Verwirrt. Priester. Lange. Engagiert und begeistert als Seelsorger. Aber dann: In Psychotherapieausbildung in der AKH-Uniklinik am Südgarten und in Lehranalyse bei Erwin Ringel. Verliebt. Nach allen Seiten hin aufgerissen. Gut. Glaube denen, die die Wahrheit suchen und zweifle an denen, die sie gefunden haben, zitiert Mettnitzer 2008 schließlich André Gide im Vorwort zu seinem ersten Buch Couch & Altar. Liebend befreit. Besser. Diplomatisch immerhin stellt er unter Gides Namen die Information: Nobelpreisträger für Literatur 1947. Als untadelige Referenz für Buchstabenkatholiken. Zumindest eine. Denn Gide war bisexuell und seine Bücher standen auf dem Index. Couch & Altar ist trotzdem nicht auf Provokation angelegt, vielmehr die schlüssige Erklärung einer „Entdeckung der Unerschrockenheit“, wie Mettnitzer ein Kapitel nennt, beim „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, wie er Václav Havel zitiert. Er liebt Zitate, seit er Rektor im Bischöflichen Bildungshaus in St. Georgen am Längsee war, benützt sie oft, schüttelt sie aus dem Ärmel. Gräbt sich in Literatur und Geschichte ein. Sucht die tiefere Bedeutung hinter Farben, Bildern, Skulpturen. Hat eine ganze Reihe glorioser Zeugen hinter sich aufgepflanzt, um die Hinwendung zu seinem zweiten Beruf unwidersprochen erklären zu können: „Psychotherapie und Seelsorge gehören seit der Antike zusammen.“ Man muss nicht auf seiner Couch in der Kochgasse unter dem nachtblauen Bild Offene Weite. Nichts Heiliges. von Walter Melcher gelegen sein, um Mettnitzers Credo „mit Worten heilen“ zu applaudieren. Er hat’s von Asklepios, dem Gott der Heilkunst in der griechischen Mythologie, adoptiert: „Zuerst heile mit dem Wort, dann durch die Arznei und zuletzt mit dem Messer.“ Bitte. Ja. Reden! Statt Pillen zu schlucken bei jeder Stimmungsschwankung, statt Schulkids schon mit Psychopharmaka zuzumüllen, statt Medizin simpler chemisch als menschlich zu exekutieren. – Aber keine Moralkeule. Lieber seine Seminare googlen, auf ORF-TV seine Sendung Was ich glaube anschauen oder im ORF-Radio Lebenswege hören. Kärntner Hörer auch Über Gott und die Welt mit Arnold Mettnitzer. In der „Langen Nacht der Kirchen“ am 23. Mai in der Stiftskirche Melk holt er die Musik zu Hilfe: „Weil ich glaube, dass wir Resonanzwesen sind.“ Zu einer „Weltpremiere“ um die mystische Zahl sieben – die Zahl der Fülle und der Vollendung, die Zahl der Vereinigung des Geistigen und der Materie, die Zahl der Heilung und die heilige Zahl schlechthin. Klassisch Joseph Haydns Orchesterwerk, Die sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze, zeitgenössisch Wolfgang Horvaths Meditation für Orgel und Saxofon Die sieben ersten Worte des Auferstandenen, um dazwischen poetisch-therapeutische Gedankenbrücken zu schlagen: „Von der Rache zur Vergebung, von der Verzweiflung zur Hoffnung, von lähmender Depression zu ansteckender Lebendigkeit.“ Fügt an: „Die therapeutische Relevanz dieses Brückenschlags ist einerseits ein biblisch fundiertes Vermächtnis, andererseits ein erstaunlich moderner Leitfaden geglückten Lebens, der auch vor den Ergebnissen neurologischer Forschung bestehen kann.“ Und weiter: „Von Patientenschicksalen zu erzählen, wäre unseriös. Also erzähle ich meist von mir selbst. Da kenn ich mich aus. Je mehr man sich selber auf die Schliche kommt, desto besser.“

Ein Wendepunkt war seine Rede am Grab von Erwin Ringel, dieser keineswegs unumstrittenen Kapazität als Psychotherapeut, Suizidforscher und Autor. Ringel, Mettnitzers zweiter, sein geistiger Vater, „der Nestwärme am Reibebaum entstehen ließ“, den er – verrückter Zufall, verrückte Bestimmung, wenn man nicht an Zufall glaubt, – unmittelbar nach seinem leiblichen verlor. Mit der Parte des Vaters war der Pfarrprovisor aus Klein St. Paul zu den Ringels nach Bad Kleinkirchheim gekommen, traf auf Betroffenheit, Trost und Verständnis, so innig, dass er schließlich doch den Geburtstag von Angela Ringel mit gutem Essen, leichtem Wein und tiefen Gesprächen mitgefeiert hat. Am nächsten Morgen war Ringel tot. An Herzversagen gestorben. Vor der Überführung nach Wien wurde er in Spittal / Drau aufgebahrt – neben dem Sarg von Mettnitzers Vater. Die Einsicht des Sohnes: „Der Zeitpunkt, erwachsen zu werden.“ Er war 41. Die Mitte der Nacht ist der Anbruch des neuen Tages nennt der Seelenheiler seine Melker Performance. Doch es verging eine Weile, bis Mettnitzer den Sonnenaufgang für sich selber zuließ. Zwei Jahre nach dem Tod der Väter hat er seine Praxis als freier Therapeut eröffnet. Neun Jahre später auf den kirchlichen Dienst verzichtet. Um endlich offen zu Jutta zu stehen. Jutta. Die so blondliebweich aussieht wie ein klassisches Wiener Mädel aus einem Fünfzigerjahre-Film. Wie sie ist? „Ein bodenständiges Kärntner Mädel. Mit einem irrsinnig großen Herzen und einem klaren Kopf. Sie gibt mir die Mitte“, sagt er. Vor allem hatte sie sehr viel Geduld! Was immer man darüber denkt, er bietet aktuell den argentinischen Gestalttherapeuten Jorge Bucay auf: „Liebe ist die Kunst, Raum zu schaffen, damit der andere der sein kann, der er ist.“ Ping pong. Individualpsychologie eines Viellesers frei nach der Schule Alfred Adlers für eine literaturaffine Gesprächspartnerin. In Couch & Altar nahm Mettnitzer aus Peter Turrinis schwer skandalisiertem Theaterstück Tod und Teufel den bodennah ehrlichen Satz: „Einsam ist man immer. Aber zu zweit ist man weniger einsam“, sagt da Supermarktkassierin Magda Schneider zu dem Landpfarrer Bley, der durch die Großstadthölle zum Teufel geht.

Jutta hat beim Kärntner Landesgericht gearbeitet, als sie 23-jährig in den Pfarrhof kam, um für ihren verstorbenen Vater eine Messe zu bestellen. Am 1. November 1992. Mettnitzer war 17 Jahre älter als sie. Alice Schwarzer fiele zu dieser Konstellation bestimmt irgendetwas Bissiges ein. Na ja. Kulturhistorisch gesehen, ist es natürlich der klare Fall des Zusammenpralls von Eros & Thanatos, Liebe und Tod.

Ein Entwicklungsroman halt wieder mal. Man kann ihn hoch erzählen, oder als urösterreichische Variante der alten Story Vom Tellerwäscher zum Millionär – wobei es nicht um Dagoberts Talerberg geht, sondern um den Bildungsschatz. Ein Kärntner Bergbauernbub aus dem Liesertal, der Älteste von sechs Geschwistern, hört Mutters Stimme, wenn der Pfarrer auf Hausbesuch vorbeischaut. Dieser Klang, sanft und weich, ganz anders, als sie mit dem Vater redet, bitterer und manchmal scharf. Schon bevor der das Pech mit dem Schädelbasisbruch bei dem Motorradunfall hatte, mit den fürchterlichsten Folgen zwischen Depression und Alkabsturz. Bevor sie mit 28 die sechs Kinder gepackt, auf eine ererbte Almhube am Sonnberg gezogen, den Grund verpachtet, mit dem Pachtzins und der Kinderbeihilfe die Familie durchgebracht hat. Ja, drei Jahre alt dürfte er gewesen sein, glaubt Mettnitzer, als er auf Mutters Schoß in der Kirche saß und in einer Predigtpause in die Stille sagte: „Mama, ich werd’ auch a Pfarrer“. Natürlich war die Gemeinde gerührt, schon wegen Jesaia, der die Berufung bereits im Mutterleib verspürt haben will – doch der jetzt 61-jährige Psychotherapeut meint nach Ringel- und Selbstanalyse: „Wahrscheinlich sollte es heißen „Mama, ich werde dich trösten, dann braucht der Pfarrer nimmer zu uns kommen“. Alle Achtung. Ödipus muss gelacht haben, irgendwo im Universum. So subtil kommt sein Komplex wohl nur selten daher. Für den Buben war’s auch die Chance, aufs Gymnasium zu gehen. In der vierten Volksschulklasse wurde umgefragt: Wer will Pfarrer werden? Die Mama ließ ihn ziehen. Nach Wien, als Internatszögling im Konvikt der Oblaten der Makellosen Jungfrau Maria und als Schüler im humanistischen Gymnasium.

Los auf seine erste Reise mit Wundern ohne Ende: In Großvaters Opel Rekord bis Tamsweg. Mit der Schmalspur-Murtalbahn bis Unzmarkt, wo der Zug dann gleich doppelt so groß war. Auf dem Weg zum Himmel stand auch ein Flugzeug am Boden – das erste, je nah gesehene, vom Zug aus, auf dem Flugplatz beim Pogusch. Dann das Buch "I learn English", das im Internat schon bereit lag: „I learn auf den ersten Blick vertrauenerweckend – der Kärntner Dialekt, ganz wie daheim. Na, doch nicht, bei näherer Betrachtung. Trotzdem: Ein Sternstundentag!“ Später hat Arnold in Wien und Rom Theologie studiert – und als er in Rom bei der Weihe zum Diakon die Ehelosigkeit gelobte, hat seine Mutter geweint. „Als ich ihr gestanden hab, dass ich eine Frau liebe, hat sie genickt: Damals schon habe sie den Tag kommen gesehen.“ Er blieb der einzige der sechs Geschwister mit akademischer Laufbahn. Seinem damaligen Bischof Egon Kapellari dankbar für dessen Verstehen bei dem Versuch, „in der Wahrheit zu leben“. Den Weg aus den Kärntner Landpfarren zur Eröffnung seiner therapeutischen Praxis hat Mettnitzer zu Fuß gemacht. Über die Gleinalm und Mariazell nach Wien: „Um beim Gehen über das Gebirge das eine hinter sich zu lassen und das andere mit neuen Kräften in Angriff zu nehmen.“ Aber ja, „auch um dem unverwechselbar Eigenen zur Hochkonjunktur“ zu verhelfen. Blieb in Gottvertrauen katholisch, wenn auch nicht mehr im kirchlich hierarchischen Sinn, sondern im Sinne des Lebendigen. Seelsorger immer, treu „der tiefsten und wesentlichsten Erfahrung meines Lebens“. Bis zur Begleitung beim Hinübergehen. „Die Rührung des protestantischen Vaters Friedrich Flick war für mich das Bewegendste an der Taufe der Zwillinge“, sagt Mettnitzer. „Er hat mich gebeten, an sein Sterbebett zu kommen, wenn es so weit ist. Und ich konnte kommen.“ Seinen Vater, der die letzten 20 Jahre seines Lebens nicht mehr „erreichbar“ war, um Alkoholismus nobel zu umschreiben, ließ er beim Kartenspielen gewinnen. Wollte ihn nicht als Verlierer zurücklassen. Doch mehr ist gelungen. „Nach 34 Jahren hat meine Mutter alle Bitternis vom Tisch gewischt. An Vaters Sterbebett hat sie sich mit ihm versöhnen können.“ Ja. Liebe im Diesseits hat ziemlich viel für sich.