Das Monster und das Mädchen: Frankenstein und die Folgen
Von Bernhard Praschl
So ein Schicksal. Ihn kennt jeder, obwohl er häufig mit seinem – namenlosen – Geschöpf verwechselt wird: Victor Frankenstein. Sie aber gilt – zumindest in unserem Sprachraum – als große Unbekannte: Mary Shelley (1797-1851). Ihr 1818 erschienener Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ sollte erst 1912 in Leipzig erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen.
Frankenstein also. Jung und wissbegierig macht er sich „in einer tristen Novembernacht“ daran, aus toter Materie einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Tatort: Eine Studentenbude in Ingolstadt, damals einer der angesagtesten Thinktanks. Das Experiment gelingt. Endet aber in einer Katastrophe. Die ungeliebte Kreatur rächt sich an ihrem Schöpfer. Und wird damit nicht nur zur Grusel-Ikone par excellence. Das Monster gilt bis heute als warnendes Mahnmal für (noch) unabsehbare Folgen allzu exaltierter Wissenschafts-Fantasien – etwa die prophezeite Verschmelzung Mensch-Maschine.
Dabei hat alles so romantisch begonnen. Im sommerlichen Dauerregen des Jahres 1816 vertrieb sich ein illustrer Kreis in einer Villa am Genfersee die Zeit mit dem Erfinden schauerlicher Storys. Neben Poet Lord Byron und seinem Leibarzt John Polidori waren auch der Dichter Percy Bysshe Shelley und dessen
Geliebte Mary Wollstonecraft Godwin zugegen.
Deren Fantasie wurde besonders durch damals brandneue Versuche mit Elektrizität beflügelt, makabre Forschungen an Leichenteilen zum Beispiel. „Einerseits diente das Gedankenspiel der Unterhaltung, andererseits trug es dazu bei, in unerforschte Regionen des Geistes vorzudringen“, schrieb die Autorin 1831 in der überarbeiteten Ausgabe ihres ursprünglich anonym veröffentlichten Werkes „ Frankenstein“.
Für Stephen King gilt die Geburtsstunde des horriblen Wesens als „eine der verrücktesten britischen Tee-Parties aller Zeiten“. Für Hollywood ist es eine nie endende Sternstunde. Vom ersten, 1910 von Elektrizitätsguru Thomas Edison produzierten stummen „Frankenstein“ bis zur aktuellen Filmbio „Mary Shelley“ sind Dutzende Verfilmungen entstanden. Nicht wenige machten aus Schauspielern echte Kultstars. Boris Karloff etwa oder „Rocky Horror Picture Show“-Akteur Tim Curry als Dr. Frank N. Furter vom Planeten Transsexual aus der Galaxie Transylvania.
Die Frankensteins von heute treiben sich freilich nicht auf Friedhöfen herum, sondern in Laboratorien und Genom-Kliniken, die oft eher Zen-artigen Wellness-Lounges gleichen als sterilen Forschungsstätten. Dem US-amerikanischen Biochemiker Craig Venter etwa gelang als Erster die Entzifferung des menschlichen Erbguts. Das ist auch bereits fast 20 Jahre her.
Seither hat sich die Genom-Forschung enorm entwickelt, vergleichbar der Steigerung der Rechenleistung von Computern. Apropos Computer: Sie sind der Grund, warum sich unter diese Wissenschaftsszene immer mehr Vertreter aus Silicon Valley mischen. Menschen wie die so genannten Transhumanisten, zu denen sich der 70-jährige Google-Futurist Raymond Kurzweil zählt. Er ist nicht nur bekannt für die Herstellung von Synthesizern und die Erfindung der Technik hinter Flachbettscannern, sondern träumt von einer Zukunft, die nicht einmal Doktor Frankenstein zu erträumen wagte.
Im Jahr 2045, so Kurzweil, soll die technologische Entwicklung so weit vorangeschritten sein, dass wir Menschen mithilfe der künstlichen Intelligenz dazu befähigt sein werden, Unsterblichkeit zu erlangen.
Für Kurzweil wird es wohl ein enges Rennen, 2045 wäre der nicht unumstrittene Visionär 97 Jahre alt. Aber egal, vielleicht heißt es ja schon bald: 120 ist das neue Hundert!
Leben aus dem Lab
Harvard-Prof. Harald Ott
Totes lebendig machen. Ein Vorgang, der einem bei „Frankenstein“ noch einen Schauer einjagte, ist in der modernen Medizin längst hochseriöses Forschungsfeld.
Der aus Tirol stammende Harald Ott ( Bild) beschäftigt sich in seinem Labor „The Ott Laboratory for Organ Engineering and Regeneration“ in Boston, Massachusetts seit zehn Jahren mit der Entwicklung biologischer Ersatzorgane als Alternative zu den stets begrenzt verfügbaren Spenderorganen.
„Ein ganz wichtiger Unterschied unserer Forschung zu ,Frankenstein’ ist“, so führte der renommierte Harvard-Professor auch in einer ZDF-Terra-X-Doku aus, „dass es nicht die Idee ist, einen verlorenen Menschen wieder zum Leben zu erwecken, sondern einem lebenden Menschen mehr Leben – oder ein besseres Leben – zu ermöglichen.“
Ott und sein Team haben ein Verfahren entwickelt, das es ermöglicht, ein Organ einer toten Ratte, eines toten Schweins aber auch eines verstorbenen Menschen komplett von seinen Zellen zu befreien. Das so gewonnene Bindegewebe-Gerüst wird in der Folge mit Zellen des künftigen Organempfängers „besiedelt“.
Mit ersten Einsätzen dieser Methode beim Menschen rechnet der Forscher in zehn bis 15 Jahren. Harald Ott: „Gezüchtete Bauspeicheldrüsen und Nieren werden wahrscheinlich die ersten Anwendungen sein.“ Ihr Vorteil: Sie müssen nur 15 Prozent der Funktion einer gesunden Niere erreichen, um die Dialyse trotzdem obsolet zu machen.
Im Labor von Frankenstein
Mary Shelley ließ ihr Geschöpf an der Uni in Ingolstadt studieren, Museumsdirektorin Marion Ruisinger im Interview
Vor 200 Jahren hatte die Medizin in Deutschland eine so große Bedeutung, dass Mary Shelley ihren Victor Frankenstein in Bayern studieren ließ. Sie sind Direktorin des Deutschen Medizinhistorischen Museums in Ingolstadt – haben Sie an Ihrem Museum ein eigenes Horrorkabinett für ihn eingerichtet?
Im Museum selbst haben wir wegen Sanierungsarbeiten derzeit keinen Spielraum, aber wir konnten in dem nahe gelegenen historischen Universitätsgebäude – von 1472 bis 1800 war hier die Bayerische Landesuniversität untergebracht – in einem schön restaurierten Gewölberaum eine Kunstausstellung zum Thema zeigen: „Kleines Frankenstein Depot. Objekte und Fotografien zur Künstlichen Intelligenz und Natürlichen Dummheit“. Im Museum beschränkten wir uns darauf, eine große Wandvitrine thematisch zu gestalten – etwa zu „Die Nacht der geimpften Toten. Von Zombies, Killerviren und den Lichtgestalten der Schutzimpfungen“. In dieser Vitrine war auch eine Ausgabe von Mary Shelleys weniger bekanntem, aber ebenfalls sehr visionären Roman „The Last Man“ (1826) zu sehen.
Ist es an der Zeit, die Leistung von Mary Shelley neu zu bewerten? Sie war ja, neben Goethe, eine der ersten Autoren, die die Verantwortung der Wissenschaft thematisierten.
Mir scheint, dass diese Neubewertung von Mary Shelley und ihrem Roman im angloamerikanischen Raum schon längst stattgefunden hat. Entsprechend gab es zum Jubiläumsjahr internationale Tagungen in England und in den USA, die interdisziplinär besetzt waren und von einer intensiven Forschung zeugten. Im deutschen Sprachraum sind wir da weit hinterher - vielleicht aber auch deshalb, weil der Frankenstein-Roman erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg ins Deutsche übersetzt wurde, also etwa gleichzeitig mit der ersten Kinoverfilmung. Der literarische Frankenstein hatte dagegen wohl kaum noch eine Chance.
Ende Dezember startet im Kino der Spielfilm „Mary Shelley“ einer arabischen Regisseurin. Das heißt, Frankenstein wird auch im kommenden Jahr aktuell bleiben. Planen Sie für 2019 weitere Veranstaltungen zu Ihrem prominenten Ex-Studenten?
Das Frankenstein-Thema ist für ein Medizinhistorisches Museum in Ingolstadt eine Steilvorlage, die wir auch in Zukunft bedienen werden – freilich nicht mehr so intensiv wie heuer. So wird es in der neuen Dauerausstellung, die wir 2020 eröffnen, einen Raum geben, der sich ausgehend vom literarischen Frankenstein und der damaligen Forschungssituation mit Grenzüberschreitungen der modernen Medizin befasst
Auch mit seinem neuen Buch ist Autor Frédéric Beigbeder („39,90“) ganz am Puls der Zeit. Angeregt von Tochter Romy – „Stimmt es, Papa, dass jeder mal stirbt?“ – macht sich sein Alter Ego auf die Suche nach dem ewigen Leben. In dem so amüsanten wie aufschlussreichen Text kommen - auf einem Trip durch Labors, Gesundheits- und Genkliniken von Genf über Jerusalem, Maria Wörth am Wörthersee, Boston und San Diego - u. a. vor: Mary Shelley, Frankenstein, der Roboter "Pepper", Craig Venter und Ray Kurzweil.