Science-Fiction-Stadt in der Wüste
Auf einer karierten Picknickdecke sitzt ein Paar auf einem Felsvorsprung und blickt verträumt in die futuristische Stadtschlucht, die sich vor den beiden auftut. Dabei scheinen Hightech-Fassaden nahtlos in unberührte Teichlandschaften überzugehen. Cinematografisch könnte man sagen: „The Fifth Element“ meets Heimatfilm. Zwei Genres, die im Kopf nicht so recht zusammengehen wollen. Bei diesem Bild handelt es sich auch nicht um ein neues Kinoplakat, sondern um die futuristische Vision einer linearen Stadt in der Wüste.
Eine vertikale Stadt für neuen Millionen Menschen
Von einer „Revolution der Zivilisation“ spricht die saudische Regierung, die das Projekt The Line als Teil des geplanten Stadt-Staates Neom mitten durch die Wüste bauen will. Mittlerweile haben die Projektverantwortlichen neue Informationen und Visualisierungen veröffentlicht, die die ursprüngliche Vision dieser linearen Mega-Stadt konkreter werden lassen.
Die computergenerierten Bilder zeigen eine 500 Meter hohe und 170 Kilometer lange Doppelmauer, die an der Außenseite komplett verspiegelt ist. Im 200 Meter breiten Raum zwischen den Außenfassaden soll eine dichte vertikale Struktur Platz finden, die insgesamt neun Millionen Menschen beherbergen kann. Das entspricht in etwa der Größe von London.
Weniger Emissionen, mehr Natur
Im Vergleich zur britischen Metropole hätte The Line allerdings einen Fußabdruck, der 46 mal kleiner ist. Die für die Megacity bebaute Fläche würde sich auf 34 Quadratkilometer belaufen. Eine Hyperdichte, die weniger Emissionen im Transport und weniger Zerstörung der Natur bedeuten würde, so die Argumentation im Masterplan des US-amerikanischen Architekturbüros Morphosis.
Das präsentierte Design der vertikal angelegten städtischen Communitys wird die traditionelle, horizontal gegliederte Stadt in Frage stellen.
Zusammen mit der intensiven Begrünung in ihrem Inneren soll The Line eine nachhaltige Alternative zu herkömmlichen Städten sein. „Das präsentierte Design der vertikal angelegten städtischen Communitys wird die traditionelle, horizontal gegliederte Stadt in Frage stellen“, tönte Saudi Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman bei der letzten Präsentation des Megaprojektes. „Der Entwurf schafft ein Modell für die Erhaltung der Natur und eine bessere Lebensqualität für die Menschen.“
Eine extrem kompakte Struktur
Im Grunde ist das Konzept einer linearen Stadt nicht gänzlich neu. Mit der Ciudad Lineal lieferte der Stadtplaner Arturo Soria y Mata bereits im Jahr 1882 einen ähnlichen Vorschlag, wenn auch in seiner Dimension wesentlich kleiner gedacht. Alle bisherigen Konzepte, die eine lineare Stadtstruktur vorsahen, kamen allerdings über die Entwurfsphase nicht hinaus.
Der Gedanke hinter diesen utopischen Gedankenspielen ist stets derselbe: Durch die extreme Kompaktheit der Struktur und das integrierte Transportsystem ließe sich die Effizienz einer Großstadt wesentlich verbessern. Bewohner von The Line etwa könnten über eine Hochgeschwindigkeitsbahn unter der Erde in nur 20 Minuten von einem zum anderen Ende der Stadt gelangen.
Kritik an propagierter CO₂-Neutralität
Die entsprechende CO₂-Bilanz, die heute in den Vordergrund rückt, könne in einer verdichteten Struktur wie dieser auf ein Minimum reduziert werden, so das Credo. Wie die saudische Regierung betont, will man beim Betrieb ausschließlich auf erneuerbare Energiequellen setzen und damit ein revolutionäres, CO₂-neutrales Stadtmodell schaffen.
Eine Annahme, die Experten und Stadtplaner nach Bekanntwerden der neuesten Details allerdings in Frage stellen. Möchte man nämlich eine gigantische Struktur wie diese bauen, dann sei das mit emissionsarmen Baumaterialien nicht zu schaffen, argumentiert Philip Oldfield, Vorstand der Fakultät für gebaute Umwelt an der University of New South Wales.
Dafür würde man ungeheure Mengen an Stahl, Glas und Beton benötigen.
„Dafür würde man ungeheure Mengen an Stahl, Glas und Beton benötigen“, so Oldfield gegenüber dem Architekturportal Dezeen. Die dabei verbauten Emissionen – geschätzte 1,8 Milliarden Tonnen CO₂ – würden etwaige Nachhaltigkeitseffekte, die durch den kleinen Fußabdruck entstehen, wieder zunichte machen.
Experten empfehlen Nachverdichtung
Auch die Biodiversität könnte in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn ein kolossaler Riegel wie dieser mitten durch die Landschaft schneidet. Zum einen kommen Tiere nicht daran vorbei, zum anderen haben sich verspiegelte Fassaden bereits als wahre Todesfallen für Zugvögel entpuppt.
Utopische Gedankenspiele wird es im Hinblick auf die Klimawende auch in Zukunft geben müssen. Allerdings, so der Tenor der Experten, würde es mehr Sinn machen, sich um die Nachverdichtung unserer bestehenden Städte zu kümmern. Das wäre aber nur halb so spektakulär.
Text: Gertraud Gerst Visualisierungen: Neom
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