Heilende Architektur
Klinikneubauten sind heute sehr oft An- oder Zubauten. Die Erweiterungen oder Zusammenlegungen bestehender Krankenhäuser sollen und können Synergien heben. Damit vereinen Krankenhäuser aber häufig immer mehr Funktionen und Fachbereiche. Umso wichtiger sind Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und eine Gestaltung, in der sich alle wohlfühlen. Denn Krankenhäuser sind sowohl Arbeitsplatz als auch Aufenthaltsort – vordringlich für die Patientinnen und Patienten.
Ein guter Krankenhausbau muss daher vieles unter einen Hut bringen: Er soll nach Effizienz-Gesichtspunkten geplant sein, hygienischen Anforderungen genügen und eine freundliche, gesundheitsfördernde Atmosphäre vermitteln. Dazu gehört auch, dass die Genesenden möglichst viel „vom Außen“ mitbekommen – durch Bezüge zum Außenraum, Ausblicke in die Umgebung und Transparenz. So kann sich Heilung rascher vollziehen.
Zubau des HSCM bringt viel unter einen Hut
Genau diesen Kriterien wurde beim Entwurf des Zubaus des Hôpital du Sacré-Cœur-de-Montréal (HSCM) in Kanada höchste Beachtung geschenkt.
Das Krankenhaus am Gouin Boulevard im Stadtbezirk Ahuntsic-Cartierville wurde 1927 fertiggestellt und diente zunächst als Sanatorium. Fast ein Jahrhundert später ist es eines der wichtigsten ambulanten Versorgungszentren in Montréal und gleichzeitig ein hochspezialisiertes Traumazentrum. Damit ist es ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsinfrastruktur der kanadischen Millionenstadt im Südwesten der überwiegend französischsprachigen Provinz Québec.
Trotz der regionalen Bedeutung der Einrichtung stand es im Laufe der Jahre schlecht um die „Gesundheit“ des alten HSCM. Das Krankenhaus litt unter immer größer werdenden strukturellen und funktionalen Mängeln. Und so gaben die Société Québécoise des Infrastructures und das Hôpital du Sacré-Cœur-de-Montréal einen Erweiterungsbau in Auftrag. Er sollte das denkmalgeschützte Gebäude ergänzen und gleichzeitig modernste Räume für die Gesundheitsversorgung schaffen.
Akribisch in den Bestand integriert
Der Auftrag ging an die Architekten Provencher_Roy und Yelle Maillé sowie an die Landschaftsplaner von Vlan Paysages. Ihr Entwurf sah einen L-förmigen neuen Flügel vor, der ein integriertes Traumazentrum, eine Mutter-Kind-Station, eine Abteilung für Endoskopie sowie eine für Kardiologie beherbergt. Zudem sind eine Wiederaufbereitungsanlage für medizinische Geräte sowie Forschungs- und Lehrbereiche untergebracht.
Der Anbau ist sorgfältig in die bestehenden Einrichtungen integriert, alt und neu verweben sich und bleiben doch eigenständige „Wesenheiten“.
Die große Komplexität der Anforderungen, die ein Krankenhausprojekt mit sich bringt, verbirgt sich hinter einem Anstrich von Einfachheit. Diese Komplexität wird in eine nüchterne Sprache destilliert.
Die Behandlungsbereiche für die Patienten befinden sich in den oberen Stockwerken des Gebäudes. Diese sind mit einer Vorhangfassade verkleidet, die durch vertikale Bänder aus Mauerwerk unterbrochen wird.
Historische, lebendige Inspiration
Der vertikale Wechsel zwischen Mauerwerksbändern und Vorhangfassaden interpretiert die Fenstergestaltung des historischen Gebäudes in einer zeitgemäßen Architektursprache neu. Die Struktur vermittelt einen gewissen Rhythmus und erzielt gleichzeitig optimale Energieeffizienz.
Auch die Materialität des oberen Blocks der Patientenbehandlungsbereiche stellt eine Referenz an das ursprüngliche Mauerwerk der alten Trakte dar. Die Innenräume sind von warmen, beruhigenden Materialien wie Holz geprägt.
Der therapeutische Wert des Sonnenlichts
Durch die Gliederung der Fassade scheinen die oberen Bereiche über den verglasten unteren Etagen zu schweben. Darin befinden sich Warteräume, Lounges, Cafés und andere halböffentliche Bereiche – sie alle bieten einen weiten Blick über das Gelände und das ursprüngliche Gebäude.
Der Anbau macht sich die besonderen Vorteile des Standorts zunutze: seine ländliche Umgebung und den Zugang zu natürlichem Licht. Das ursprüngliche Sanatorium war so gelegen und konzipiert, da das Sonnenlicht als wesentlicher Bestandteil der Patientenbehandlung galt und genutzt wurde. Die Heilkraft natürlichen Lichts ist auch in der heutigen Medizin unumstritten.
Nach strengen LEED-Kriterien konzipiert
Das nach strengen LEED-Umweltkriterien verkleidete neue Gebäude ist so konzipiert, dass es sich zur Umgebung hin öffnet und von Sonnenlicht durchflutet ist. Das Design trachtet danach, das natürliche Licht zu maximieren. LEED steht für „Leadership in Energy and Environmental Design“ und ist das weltweit am häufigsten verwendete Bewertungssystem für umweltfreundliche Gebäude.
Zudem kann man auf Schritt und Tritt einen Blick auf die umgebende Natur werfen. Dies führt zu einem angenehmen und heilsamen Patientenerlebnis, das für kurze Momente vergessen lässt, wo man sich befindet.
Gärten für Regeneration und Kontemplation
Der Erweiterungsbau ist im Stil eines Campus angelegt, der bepflanzte und bebaute Bereiche miteinander verbindet. Die Landschaft ist als zentraler Bestandteil der Patientenerfahrung einbezogen. Die Gärten bieten Patienten, Ärzten, Besuchern und Mitarbeitern Raum für Ruhe und Kontemplation.
Eine lange Achse verbindet die historischen Gebäude mit dem modernen Trakt. Sie ermöglicht die nahtlose Fortbewegung von Patienten und Personal. Von dieser Achse aus können die Besucher über die bereits vom Eingang aus sichtbaren Aufzüge zu den Stationen der anderen Pavillons gelangen. Eine direkt in die Architektur integrierte Beschilderung erleichtert die Orientierung.
Erweiterbar
Die Achse öffnet sich zu einem einladenden, lichtdurchfluteten Eingangsbereich, der als zwangloser Treffpunkt für die Experten der verschiedenen Abteilungen, für Studenten und Patienten gleichermaßen dient. Das Eingangsareal ist so designt, dass sich ein Gefühl des Ankommens einstellt beziehungsweise Pausenzeiten angenehm verbracht werden können.
Sollten künftige Erweiterungen nötig werden, so können diese problemlos bewerkstelligt werden, „die Grundlage für ein mögliches weiteres Wachstum in der Zukunft ist geschaffen“, sagt Philippe Mizutani, Partner bei Provencher_Roy.
Das Hôpital du Sacré-Cœur-de-Montréal (HSCM) war Finalist in der Kategorie „Completed Buildings - Health“ des World Architecture Festival 2023.
Provencher_Roy ist ein preisgekröntes kanadisches Architekturbüro, das sich mit allen Formen von Baukörpern beschäftigt. Der integrierte Designansatz inkludiert stets Fachwissen aus den Bereichen Innenarchitektur, Städtebau, Stadtplanung, Landschaftsarchitektur, Industriedesign und nachhaltige Entwicklung, heißt es bei Provencher_Roy.
Text: Linda Benkö
Fotos: Olivier Blouin, Stéphane Brügger / v2com
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