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Auf den Spuren des Aufbruchs

Es war im ersten Lockdown 2020, als ihn ein Auftrag in eine Gegend von Wien brachte, die er nicht sehr gut kannte. „Ich sah mich um und dachte: Hier sieht es aus wie in den 1950er-Jahren“, beschreibt Autor und Grafiker Tom Koch den Moment, der die Idee zu einem neuen Bildband über Wien lieferte. Während Gründerzeit, Jugendstil oder die Bauten des Roten Wien gut dokumentiert sind, fanden die Aufbruchsjahre nach dem Zweiten Weltkrieg bislang wenig Beachtung. Mit dem Buch- und Ausstellungsprojekt „Mid-Century Vienna“ füllt Koch nun diese zeitgeschichtliche Lücke.

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Die Neuentdeckung der Stadt

Gemeinsam mit dem Fotografen Stephan Doleschal begab sich der Grafiker ein Jahr lang auf die Spuren der Zeit zwischen 1950 und 1965. Und die fand er reichlich. „Bei genauerer Betrachtung ist ganz Wien eine Art Mid-Century-Freilichtmuseum“, wie er im Vorwort schreibt. Dabei machte er es sich zur Aufgabe, neben den bekannten Vertretern dieser Epoche auch die weniger bekannten ans Tageslicht zu bringen.

Bei genauerer Betrachtung ist ganz Wien eine Art Mid-Century-Freilichtmuseum.

Tom Koch, Autor und Grafiker

So finden sich im Buch Landmarks wie die Stadthalle und der Ringturm ebenso wie rare Kunst am Bau-Objekte und unter schweren Teppichen versteckte Mosaike. „Erst als wir die großen Läufer in der Aula entfernten, kam der überdimensionale Pfeil zum Vorschein“, beschreibt Koch etwa die Freilegung des Bodenmosaiks in der Hans Radl Schule in Gersthof. Der Bau des Architekten Viktor Adler galt zum Zeitpunkt seiner Eröffnung 1959 als architektonische Revolution im Schulbau. Es ist eines der wenigen Bauwerke seiner Zeit, die bis heute original erhaltenen sind.

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Die menschenleeren Straßen und die geschlossenen Lokale während des Lockdowns kamen den fotografischen Arbeiten zum Buch entgegen, wie Koch erzählt. Es entstanden stimmungsvolle Aufnahmen von Oswald Haerdtls Volkgarten Pavillon und dem Café Prückel, das 1954 unter seiner Leitung umgebaut wurde. Auch Wiens herausragende Bäderarchitektur, wie das Bundesbad Alte Donau, wirkt durch die Abwesenheit von Menschen wie aus der Zeit gefallen.

Zwischen Beschwingtheit und Biederkeit

Die Zeugen des Mid-Century-Design in Wien sind allgegenwärtig. Im Alltag werden sie aber gern übersehen. Das Wien Museum, das die Ausstellung zum Buch präsentiert, sieht den Grund dafür in der Formensprache. „Es ist keine Avantgarde, die uns hier begegnet, sondern eine konservative Moderne aus dem restaurativen politischen Klima der Nachkriegszeit – angesiedelt zwischen Beschwingtheit und Biederkeit“, wie es im Ausstellungstext heißt.

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Das ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in dieser Zeit des Aufbruchs dieselbe Generation an Architekten am Werk war, die bereits unter den Nationalsozialisten und im Roten Wien bauen durfte. Der Wohnbau aus dieser Zeit verzichtete ganz auf künstlerische Gestaltung, was ihm im Volksmund den Beinamen „Emmentalerarchitektur“ einbrachte.

Fundamentale Werke der Moderne

Zu den Juwelen der Wiener Nachkriegsmoderne zählt Koch auf jeden Fall die Sakralbauten. In der Don Bosco-Kirche Neuerdberg befindet sich eine lichtstreuende Betonwand von Erwin Hauer aus dem Jahr 1954. Der Bildhauer stattete mehrere Kirchen in Wien mit diesen perforierten Wänden aus. Er ließ sich seine Designs patentieren und ging 1955 als Fulbright-Stipendiat in die USA.

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Seine skulpturalen Wände wurden schließlich lizenziert und international vermarktet. Das „Domus“-Magazin listet sie unter den "Fundamentalen Werken der Moderne“. Sie gingen als Modular Constructivism in die amerikanische Kunstgeschichte ein, während Hauer in seinem Heimatland Österreich nie große Bekanntheit erlangte.

Anleitung zum Entdecken

Die Ausstellung Mid-Century Vienna ist bis zum 9. Januar 2022 am Bauzaun des Wien Museums zu sehen. Ein sehr passender Ort, denn hinter dem Zaun bekommt der Mid-Century-Bau von Oswald Haerdtl gerade ein zeitgemäßes Makeover.

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Das Buch von Tom Koch und Stephan Doleschal ist im Falter Verlag erschienen. Es liefert eine Anleitung dafür, die Stadt Wien neu zu entdecken. Viele der Design- und Architektur-Highlights sind öffentlich zugänglich und können auf eigene Faust erkundet werden. Ein Geheimtipp vom Autor? „Die in Falten gelegte Betondecke in der Neuen Gruft von Karl Schwanzer, die kennen nur die wenigsten.“

Text: Gertraud Gerst Fotos: Stephan Doleschal, Klaus Pichler

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