55 Quadratmeter Tokio am Rhein
Ein Schirm über dem Kopf. Die abgewandelte Form der Redensart gilt im Fall eines ikonischen japanischen Wohnhauses ebenso wie das Original: Ein Dach über dem Kopf.
Das „Umbrella House“ leitet seinen Namen von seinem Dach ab, dessen Konstruktion im Innern an einen aufgespannten Schirm erinnert. Genauer, an die geometrische Struktur eines Karakasa, eines japanischen Regenschirms aus geöltem Papier. Das von Kazuo Shinohara entworfene Gebäude wurde als Wohnhaus für eine japanische Kleinfamilie konzipiert. Gebaut wurde es 1961 in der japanischen Hauptstadt, heute steht es in Weil am Rhein.
Stilprägende Architekturpersönlichkeit
Kazuo Shinohara (1925 – 2006) gilt neben Kenzo Tange als bedeutendster japanischer Architekt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist international allerdings noch wenig bekannt. Das Umbrella House aus Shinoharas sogenanntem „Ersten Stil“ gilt als Meisterwerk. Es ist das kleinste und eines der letzten noch erhaltenen Wohnhäuser aus dieser Epoche des japanischen Architekten. Shinohara selbst hat sein Werk in vier Stile unterteilt, in denen er sich jeweils unterschiedlichen Fragestellungen widmete.
Shinohara bediente sich beim Entwurf des Hauses bei traditioneller japanischer Wohn- und Tempelarchitektur. Er wandte verschiedene Motive dieser vernakulären, also auf den Ort bezogenen Architektur erstmalig im modernen Wohnungsbau an. So war die pyramidenförmige Dachform des Umbrella House bis dahin nur in Tempelanlagen zu finden. Außerdem achtete Shinohara darauf, einfache und kostengünstige Materialien zu verwenden. Die Fassade besteht daher beispielsweise aus Zementfaserplatten.
Ein Haus als Kunstwerk
„Meine feste Überzeugung, dass ein Haus ein Kunstwerk ist, entstand aus der Auseinandersetzung mit diesem kleinen Haus. Ich wollte die Kraft des Raumes in der Doma eines alten japanischen Bauernhauses zum Ausdruck bringen, hier mit Hilfe der geometrischen Struktur eines Karakasa“, kommentierte Architekt Kazuo Shinohara seinen minimalistischen Entwurf für das Umbrella House.
Bei der Doma handelt es sich um einen Raum mit Lehmboden. Der Karakasa ist der traditionelle japanischer Regenschirm aus geöltem Papier.
Meine feste Überzeugung, dass ein Haus ein Kunstwerk ist, entstand aus der Auseinandersetzung mit diesem kleinen Haus.
Das Umbrella House war im japanischen Architekturdiskurs der 1960er-Jahre neuartig und regte diesen an, heißt es in einem Text von Vitra. Doch trotz seiner architekturhistorischen Bedeutung sollte es an seinem bisherigen Standort einem Straßenbau-Vorhaben weichen. Das war für Vitra der Anlass, das Haus zu übernehmen und somit für die Nachwelt zu sichern.
Von Tokio an den Rhein
Das in Holzständerbauweise errichtete Gebäude wurde im Sommer 2020 sorgfältig abgebaut und in seine Einzelteile zerlegt. Die Holzkonstruktion aus japanischer Zeder, japanischer Kiefer und Douglasie wurde schließlich zusammen mit den weiteren Teilen des Hauses von Tokio nach Weil am Rhein verfrachtet.
„Die Verlegung eines Gebäudes ist dann sinnvoll, wenn seine Konstruktion dies problemlos zulässt, und natürlich muss es in den Kontext des neuen Ortes passen. Das Umbrella House erfüllt beide Kriterien: Es ist relativ leicht zu versetzen und steht in Verbindung mit der starken japanischen Präsenz auf dem Vitra Campus“, erklärt Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus von Vitra.
Der vom Züricher Architekturbüro Dehli Grolimund betreute Wiederaufbau auf dem Vitra Campus begann im September 2021 und wurde im Sommer 2022 abgeschlossen. Das Tokyo Institute of Technology leistete während des gesamten Neuaufbaus tatkräftig fachliche Unterstützung.
Architektur-Ikone Umbrella House
Seine ikonografische Rolle in der japanischen Architekturgeschichte verdankt das Umbrella House auch seiner klaren Schlichtheit und den kompakten Abmessungen. Auf einer Grundfläche von lediglich 55 Quadratmetern befinden sich die Küche mit Esstisch, ein Wohnraum, ein Badezimmer und ein traditionelles Tatami-Zimmer. Dieser leicht höher gelegene und mit einer flachen Decke versehene Raum lässt sich durch fünf Schiebetüren (Fusuma) vom Wohnraum trennen. Das Zimmer ist mit 15 Tatami-Matten in halber Größe ausgelegt und bot der ganzen Familie Platz zum Wohnen und Schlafen.
Die sichtbare Schirmstruktur des Daches spannt im Innern ein zirka vier Meter hohes Raumvolumen auf, welches die kleine Grundfläche größer erscheinen lässt. Der halbhohe Raum über dem Tatami-Zimmer wird über eine Leiter erschlossen und als Stauablage genutzt. Die Möbel wurden von Kazuo Shinohara selbst und vom Designer Katsuhiko Shiraishi entworfen. Das Mobiliar des Umbrella House besteht heute zu Teilen aus Originalmöbeln und Nachbauten. Auch die Drucke der japanischen Künstlerin Setsu Asakura an den Schiebetüren gehen auf Shinoharas Vorgabe zurück.
Ikonen der Architektur-Geschichte
Neben dem geodätischen Dom von Buckminster Fuller / T. C. Howard aus dem Jahr 1975 und einer Tankstelle von Jean Prouvé aus dem Jahr 1953 ist das Umbrella House das dritte historische Gebäude, das auf den Vitra Campus versetzt wurde. Dort wird es nunmehr als Ort für kleinere Zusammenkünfte genutzt und soll Besucherinnen und Besuchern Einblicke in ein bedeutendes Zeugnis moderner Architektur Japans geben.
Auf dem weitläufigen Campus ist auch das Vitra Design Museum angesiedelt. Wechselnde Ausstellungen zu Architektur, Möbeln und Einrichtungen sowie Design zählen zu den Schwerpunkten des Ausstellungsbetriebs.
Shinohara wurde 1925 in der Präfektur Shizuoka geboren. Er studierte Mathematik, ehe er sich der Architektur zuwandte und 1953 unter Kiyoshi Seike seinen Abschluss am Tokyo Institute of Technology machte. Neben seiner Lehrtätigkeit an diesem Institut gewann Shinohara mit seinen avantgardistischen Entwürfen für Wohnhäuser internationale Anerkennung und galt schon bald als einer der führenden Architekten der japanischen Nachkriegszeit. Shinohara war Professor am Tokyo Institute of Technology sowie Gastprofessor an der Universität Yale in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut und der Technischen Universität Wien. Einer Reihe von theoretischen Schriften begründeten seinen Einfluss auf die Architektur in Japan und weltweit. Nach seinem Tod 2006 wurde ihm 2010 anlässlich der XII. Architekturbiennale in Venedig postum der Goldene Löwe verliehen.
Das Buch zum Umbrella House
Zum Umbrella House, dem Meisterwerk von Kazuo Shinoahara, publizierte Vitra auch ein eigenes Buch. Der inhaltliche Bogen spannt sich von Impressionen aus der Entstehungszeit im Japan der 1960er-Jahre über Entwürfe und Pläne bis hin zu fachkundigen Texten von Ryue Nishizawa (SANAA), Shinichi Okuyama und David B. Stewart.
Text: Albert Sachs Fotos: Vitra, Julien Lanoo, Akio Kawasumi, Dejan Jovanovic, Dehli Grolimund
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