Psychiatrie: 70 Kinder mit Behinderung zwischen 1945 und 1984 gestorben
Von Julia Schrenk
"Nach 1945 gab es keinen Schnitt. Die Strukturen haben weiter bestanden." Das sagte Elisabeth Pohl 2013 zum KURIER. Pohl war ab 1981 Krankenschwester im Otto-Wagner-Spital in Steinhof. 2013 berichtete sie im Falter und im KURIER über die unmenschlichen Zustände, die behinderte Kinder dort erleiden mussten. Sie seien geprügelt worden, erzählte Pohl, ans Bett gefesselt worden und hätten Wasser aus der Klomuschel trinken müssen.
Gewaltsystem
Seit gestern, Montag, ist klar: Das stimmt. Und es hatte System. Nach dem Bekanntwerden der Vorfälle 2013 richtete die Stadt Wien eine Servicestelle im Krankenanstaltenverbund (KAV) ein. Nachdem sich auch dort die Vorwürfe erhärtet hatten, wurde das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie mit einer Studie beauftragt. Und die liegt nun vor.
Das fünfköpfige Forscherteam untersuchte die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung von 1945 bis 1989 im Pavillon 15 in Steinhof und in der sogenannten Rett-Klinik am Rosenhügel. In den Kliniken herrschte ein "umfassendes Gewaltsystem", sagt Studienautorin Hemma Mayrhofer. Die Betreuungssituation sei "völlig unzureichend" gewesen. Mayrhofer spricht von "massiven Einsatzes sedierende Medikamente" (vor allem in Pavillon 15) von "Essensverabreichung mit roher Gewalt", von zu wenig Nahrung. Davon, dass die Kinder in Netzbetten und Zwangsjacken fixiert wurden und dass die Wasserhähne in den Schlafräumen in der Nacht abgedreht wurden. "Den Kinder blieb nichts anderes übrig, als aus der Toilette zu trinken."
All das war auch damals weit entfernt von geltenden Standards. "Es war eine Situation, die auf politischer und gesellschaftlicher Ebene hingenommen wurde", sagt Gesundheitsstadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ).
NS-Methoden
Der überwiegende Teil des Personals des Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals wurde vom Spiegelgrund übernommen. Dort führte der NS-Arzt Heinrich Gross bekanntlich seine "Forschungen" an behinderten Kindern durch und war nachweislich an deren Emordung beteiligt. Wie das Forscherteam herausfand, soll Gross auch in der Nachkriegszeit die institutioinellen Rahmenbedingen vorgefunden haben, um seine im Zuge der Kinder-Euthanasie begonnen Forschungen fortzusetzen: 70 Kinder "mit Gehirnschädigungen oder Epilepsie" sind zwischen 1945 und 1984 in Steinhof gestorben – begünstigt durch mangelnde Pflege und Gewalt. "Nachweislich", sagt Medizinhistorikerin Katja Geiger, wurden diesen "Kindern die Gehirne entnommen und Heinrich Gross übergeben".