Chronik/Wien

Lebensraum Zentralfriedhof

"Es lebe der Zentralfriedhof", sang einst Wolfgang Ambros – und wusste dabei vermutlich nicht, wie nah er der Wahrheit kam. Denn das 250 Hektar große Friedhofsgelände mit seinen mehr als 300.000 Gräbern ist nicht nur letzte Ruhestätte, Ort des Gedenkens und ob zahlreicher prominenter Verstorbener beliebte Touristenattraktion – sondern eben auch Lebensraum. Auf dem weitläufigen Areal und den Erweiterungsflächen gedeihen zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Und die Wiener Umweltschutzabteilung (MA22) sowie die Friedhofsverwaltung sind bemüht, dass das so bleibt.

So holzt man im Rahmen des Arten- und Lebensraumschutzprogramms "Netzwerk Natur" zum Beispiel alte Bäume nicht ab. Befreit von Krone und Ästen bleibt das Totholz stehen, um Insekten und somit Grün-, Bunt oder auch Mittelspechten Nistplätze zu bieten. "Nach den Spechten, die den Baumstamm nur eine Saison lang bewohnen, kommen dann die ,Nachmieter‘ – Kohlmeisen, Spatzen oder auch Fledermäuse", erklärt Biologe Harald Gross von der MA22.

Das unterscheide den Zentralfriedhof von der Welt außerhalb der Friedhofsmauern: "Draußen geht dieser Lebensraum verloren, weil kaputte Bäume aus Haftungsgründen umgeschnitten werden." Abgefallene Blätter werden ebenfalls nicht zur Gänze weggeräumt. Denn in den Laubhaufen finden Igel geeignete Verstecke zum Überwintern.

Und auch die Gräber sind Teil des Lebensraums. Zum einen stelle der Grabschmuck mit seiner Vielzahl an Blüten eine Attraktion für Wildbienen dar, erläutert Gross. Zum anderen dienen die dicht an dicht gereihten Grabsteine Fasanen, Hasen, Rehen, Füchsen, Dachsen, Steinmardern oder Feldhamstern als Sichtschutz.

Die großen ungemähten Wiesen im Süden des Friedhofs sind für die Wildtiere ebenso Rückzugsflächen wie die kleinen Wäldchen. Gefüttert werden die Dauergäste nicht, aber auch nicht bejagt oder von Hunden gestört. Insgesamt 51 Brutvogel- und 47 Tagfalterarten wurden auf dem Gesamtareal nachgewiesen.

Neue Infrastruktur

So einladend der Zentralfriedhof als Lebensraum für etliche Arten auch sein mag, in einigen Fällen musste man nachhelfen. Beispielsweise wurden für manche Spezies je nach Bedürfnissen eigene Tümpel angelegt – ein Teich, in dem nichts wächst, für die Wechselkröte. Und ein Schilfbiotop für den Laubfrosch. "Auch Teichhühner oder die seltene Mandarinente schauen hier öfter vorbei", sagt Gross. Dazu Turmfalken, Sperber, Eulen, Dohlen, Reiher und im Winter vor allem die russische Saatkrähe.

Für die Zauneidechsen wurden Steinböschungen angehäuft und für das Wiener Nachtpfauenauge – den größten Schmetterling Europas – extra Kirschbäume gepflanzt. Dessen Raupen ernähren sich von den Früchten.

Wie groß der Wildtierbestand tatsächlich ist, weiß man bei der Friedhofsverwaltung noch nicht. "Wir sind gerade dabei, das zu erheben", erklärt der stellvertretende Leiter des Zentralfriedhofs, Arno Uhrmann.

Fakt ist aber, dass sich nicht alle, die den Friedhof frequentieren, über die Artenvielfalt freuen. Wenn die Tiere etwa die Bepflanzung von liebevoll geschmückten Gräbern fressen. "Das wird zuweilen heiß diskutiert", weiß Uhrmann. Zwar hafte die Stadt nicht für die Natur, in besonders heiklen Fällen arrangiere man sich aber mit den Betroffenen.

Baum-Paradies

Jedoch nicht nur die Fauna soll sich in Simmering heimisch fühlen. Besonders stolz ist man auf den vielfältigen Baumbestand. Unter den 15.000 Bäumen auf dem Areal befinden sich Birken, alte Eichen (bei Hirschkäfern besonders beliebt), Linden, Ahornbäume und Eschen sowie viele Eiben. "Letztere waren in Wien schon so gut wie ausgerottet, weil sie ob ihrer Giftigkeit früher gezielt abgeholzt wurden", erläutert Uhrmann.

An Baumrinden oder alten Grabsteinen gedeihen zudem zahlreiche Flechten. Sage und schreibe 17 Arten.