Chronik/Wien

Immer mehr junge Wiener sind obdachlos

Faschiertes. Zwiebel. Semmelwürfel. Kräuter. "Und auf ein halbes Kilo Masse gebe ich immer noch ein Ei, damit es zusammenhält", erzählt Sandra. Wie man Fleischbällchen, ihre Lieblingsspeise, zubereitet, hat die 19-Jährige in ihrer Ausbildung zur Köchin noch gelernt. Recht viel mehr nicht. Sandra hat ihre Lehre abgebrochen. In ihrem Elternhaus gab es oft Streit, die Familie ist oft umgezogen. "Ich fühle mich echt entwurzelt und es hat mich auf die schiefe Bahn gebracht", sagt Sandra. Heute lebt die 19-Jährige im Haus Juca, einer Einrichtung der Caritas für junge Obdachlose in Wien-Ottakring.

95 junge Erwachsene werden dort und in der angrenzenden Notschlafstelle beherbergt. Die Menschen, die dort Zuflucht suchen, sind immer jünger. "Vor zehn Jahren lag das Durchschnittsalter der Hausbewohner bei 27 Jahren. Mittlerweile ist es auf 21 Jahre gesunken", sagt Andrea Fichtinger-Müllner. Die Sozialarbeiterin leitet das Haus Juca.

Auch Kolpa war 21 Jahre alt, als er ins Juca einzog. 2003 kam er mit seinen Eltern aus der Türkei nach Österreich. "Noch bis vor zwei Jahren hatte ich eine gute Zeit, aber dann gab es Streit", erzählt er. Der mittlerweile 23-Jährige hat eine Ausbildung zum Technischen Zeichner abgeschlossen.

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Doch Kolpa war arbeitslos, konnte sich die 450 Euro für eine 50 große Gemeindewohnung nicht lange leisten. Noch bevor er delogiert wurde, stellte er einen Antrag, um ins Haus Juca einziehen zu können.

Bis es so weit war, schlief er auf der Straße.

Hoher Druck

Es sind junge Erwachsene wie Kolpa und Sandra, die im Juca unterkommen. "Wir sind so gut wie immer ausgelastet", sagt Fichtinger-Müllner.

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Auch laut dem Fonds Soziales Wien ist die Zahl der obdachlosen unter 30-Jährigen gestiegen (gemessen an der Gesamtzahl der Nächtiger ist der Anteil junger Obdachloser leicht gesunken und bleibt damit kontant bei etwas mehr als einem Drittel). 2015 suchten 3497 Personen unter 30 eine Einrichtung der Wiener Wohnungslosenhilfe auf. 2009 waren es 2646 Personen. Akut von Obdachlosigkeit betroffen, also angewiesen auf eine Notschlafstelle, waren 2014 in Wien 999 Personen unter 30 Jahren. 2009 waren es 688. Nur bei den 20- bis 25-Jährigen ist die Zahl der Obdachlosen von 2014 auf 2015 leicht gesunken.

Auch in die Tageszentren der Caritas kommen immer mehr junge Menschen. Sie können sich oft einfach das tägliche Leben nicht mehr leisten. "In der Gruft bemerken wir seit etwa zwei Jahren, dass auch junge Erwachsene zu uns kommen", sagt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. "Und diese jungen Menschen unternehmen alles, damit man an ihrem Äußeren nicht erkennt, dass sie wohnunglos sind."

Warum die Menschen, die ins Haus Juca kommen, immer jünger sind? "Der Druck auf dem Arbeitsmarkt steigt, ebenso der am Wohnungsmarkt. Jobs für Unqualifizierte gibt es praktisch keine mehr", sagt Fichtinger-Müllner. Und die würden viele ihrer Hausbewohner brauchen.

Knapp die Hälfte von ihnen hat nur einen Hauptschulabschluss, etwa die andere Hälfte hat gar keinen Abschluss."Einen Job zu finden und auch zu behalten, ist für viele von ihnen unerreichbar und das wissen sie auch", sagt die Sozialarbeiterin.

Struktur finden

Nur vereinzelt komme es vor, dass im Haus Juca Menschen aufgenommen werden, die eine Lehre oder ein Studium abgeschlossen haben. Die 19-jährige Sandra würde gerne ihre Koch-Lehre abschließen, aber derzeit schaffe sie das noch nicht: "Ich will mir wieder eine feste Struktur im Alltag angewöhnen, aber derzeit hab’ ich echt große Schlafprobleme", sagt sie. Das liege an der Zehn-Personen-WG, in der sie untergebracht ist. Vorerst, sagt sie, will sie deshalb als Hilfskraft arbeiten.

Es ist echt viel schiefgegangen", sagt Sandra. "Aber hier im Juca durfte ich mir in meinem Zimmer ein kleines Stück "Meins" einrichten, wo ich mich zu Hause fühle."

KURIER: Wer wohnt bei Ihnen im Haus Juca?

Andrea Fichtinger-Müllner: Das sind junge Menschen, manche haben psychische Probleme, andere kommen direkt aus Krisenzentren. Viele von ihnen haben Beziehungsabbrüche erlebt und kaum Perspektive.

Die Menschen, die im Haus Juca Zuflucht finden, sind immer jünger. Warum ist das so?

Der Druck auf dem Arbeitsmarkt steigt, auch der auf dem Bildungsmarkt, bei vielen unserer Bewohner fehlt das soziale Netz, das sie in schwierigen Situationen auffängt. Und wenn der Druck in der Gesellschaft steigt, dann ist auch das Netz oft brüchiger. Dazu kommt, dass die die Zugangskriterien für Wiener Wohnen verschärft wurden. Für viele sind die bürokratischen Hürden ein Problem.

Reicht das Angebot für junge Obdachlose in Wien aus?

Nein, wir sind das einzige Haus für diese junge Zielgruppe und immer zu 98 Prozent ausgelastet. Was fehlt, ist ein niederschwelliges Angebot, das die jungen Menschen ohne große bürokratische Hürden annehmen können.