Chronik/Wien

Immer mehr Wiener leben in Armut

Irene P. ist 38 Jahre alt und bezieht Mindestsicherung. Hätte ihr jemand vor drei Jahren gesagt, dass sie einmal auf staatliche Hilfe angewiesen sein wird, sie hätte es nicht geglaubt. Irene P. hatte einen Job als Chefsekretärin, zwei Kinder, einen Mann, ein Haus – Bilderbuchfamilie. Doch dann kam es zur Trennung, der Mann wurde arbeitslos und zahlt seitdem keinen Unterhalt. Auf einmal musste Irene P. für sich und ihre Kinder aufkommen. Der Stress war zu viel: Irene P. erlitt ein Burn-out und kann seitdem nur halbtags als Ordinationshilfe arbeiten – zu wenig, um für Miete, Essen und Kleidung aufzukommen.

Anstieg

Irene P. ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Immer mehr Wiener müssen die Mindestsicherung von derzeit 773,26 € pro Monat beantragen. In den Jahren 2009 bis 2011 stieg die Zahl der Bezieher um 29 Prozent auf 129.000 Wiener und Wienerinnen. Die Aufwendungen der Stadt haben sich um 19 Prozent erhöht. Das geht aus einem Bericht des Kontrollamts hervor, der die Gebarung der zuständigen MA 40 durchleuchtet hat.

436 Millionen Euro gibt Wien pro Jahr für die Mindestsicherung aus. 2009 waren es noch 365 Millionen. Den Großteil davon bekommen Menschen wie Irene P. Menschen, die zwar arbeiten, deren Einkommen aber zum Überleben nicht ausreicht. Mehr als 92.000 Wiener haben die in solchen Fällen vorgesehene Richtsatzergänzung 2011 in Anspruch genommen, um 38 Prozent mehr als noch im Jahr 2009.

„Für den Zuwachs gibt es mehrere Gründe“, sagt Martin Schenk, Armutsexperte der Diakonie. Zum einen sei es die steigende Arbeitslosigkeit nach der Krise, die bei wenig Einkommen rasch angespannte Verhältnisse schaffe. Dazu kämen prekäre und unsichere Jobs. „Etwa im Baugewerbe, als Reinigungskraft, aber auch im Kreativbereich“, sagt Schenk.

Etwa die Hälfte kommt mit professioneller Hilfe aus der Armut raus. Die andere Hälfte pendelt aber zwischen schlecht bezahlten Jobs und Mindestsicherung hin und her. Besonders betroffen sind junge Alleinerziehende und ältere Menschen, nach einem Jobverlust. Verschärfend ist, dass sich die Lebenserhaltungskosten in den letzten Jahren massiv verteuert haben.

Im bundesweiten Vergleich zahlt Wien am meisten für die Mindestsicherung. Das könnte auch daran liegen, dass es die MA 40 mit der Kontrolle nicht so genau nimmt. Das Kontrollamt kritisierte, dass beim Erstantrag das vorgeschriebene Vier-Augen-Prinzip oft nicht eingehalten wurde. Auch die regelmäßige Prüfung, ob die Bezieher die Anspruchsvoraussetzungen weiterhin erfüllen, fand oft nicht statt. Damit fehlt das Geld aber für Menschen, die es brauchen. Menschen wie Irene P.