Ghostbikes: Zehn Jahre weißer Zorn
Dienstag, 30. Jänner: Ein 72-jähriger Pensionist radelt über die Kreuzung Lassallestraße/Praterstern. Plötzlich schleudert ihn ein Auto zu Boden. Der Mann stirbt noch an der Unfallstelle. Seit rund zwei Wochen erinnert dort ein weiß lackiertes Fahrrad an das Unglück. Blumen klemmen an seinem Gepäckträger, am Boden brennen Grabkerzen. "Ghostbike" heißt diese Form von Mahnmal, die in Wien heuer ihr zehnjähriges Jubiläum feiert – und inzwischen auch in der Fußgänger-Community Nachahmer findet.
Organisiert hat das Geisterrad Christopher Ohmeyer, der selbst leidenschaftlicher Radfahrer ist. In einem Konvoi aus 30 Radlern fuhr er es bei einem "Ghostbike-Ride" durch die Stadt in den zweiten Bezirk. Das Geisterrad ist Ausdruck von Trauer um den Verstorbenen und von "Zorn über die unzureichende Rad-Infrastruktur" zugleich, erklärt ein Schild am Gestell. Der schmale Radweg an der Lassallestraße sei ein Negativ-Beispiel, sagt Ohmeyer. "Er ist eine wichtige Verbindung, hat aber die Kapazität nicht." Um schwere Unfälle zu vermeiden, müssten zudem Sichtbeziehungen verbessert und das Tempo der Autos gedrosselt werden. "Von 50 auf 30 km/h ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Radfahrer bei einem Unfall schwer oder tödlich verletzt, viereinhalb Mal geringer", betont er.
Stadt prüft
Handlungsbedarf sieht auch die Interessensvertretung Radlobby. Zwar werde Radfahren immer sicherer, doch reagiere die Stadt oft erst nach Unfällen, kritisiert Sprecher Roland Romano. Seit 2007 kamen in Wien pro Jahr zwischen null und drei Radfahrer ums Leben. Bei Fußgängern verzeichnete die Unfall-Statistik 2010 mit 21 Toten den Höchststand. Neben der Kfz-Geschwindigkeit seien gleichzeitige Grünphasen für abbiegende Autos und geradeaus fahrende Radler ein Risiko, sagt Romano.
Das weiße Mahnmal am Praterstern zeigt nun offenbar Wirkung: Nach einem Lokalaugenschein von Bezirksvorstehung, Polizei und den zuständigen Magistratsabteilungen soll auf der Mittelinsel der Unfall-Kreuzung eine zusätzliche Ampel für Radler montiert werden, teilt Bezirkschefin Uschi Lichtenegger (Grüne) mit. Da Autolenker an dieser Stelle häufig nicht warten, bis ihre Ampel grün zeigt, werde zudem die Einführung eines Rotlicht-Radars überprüft.
In die Fußstapfen
Die Idee der Ghostbikes stammt aus den USA, wo bereits 2003 ein derartiges Mahnmal aufgestellt wurde. Geisterräder sind seither in über 30 Ländern präsent. Das erste Wiener Ghostbike wurde 2008 im 15. Bezirk platziert – und sorgte sogleich für Wirbel. Nach nur einem Tag gingen zahlreiche Beschwerden bei der Behörde ein. Der Grund: Das Rad war unerlaubterweise an eine Ampel gekettet. Seitens der MA 48 heißt es heute, dass man "sehr sensibel" mit Ghostbikes umgehe. Solange sie nicht verkehrsbehindernd aufgestellt seien und von Trauernden besucht werden, lasse man sie stehen.
Gefallen an der Symbolik der weißen Räder haben inzwischen auch Fußgänger-Aktivisten gefunden. Als Ende Jänner an der Hütteldorfer Straße ein Lkw eine 19-jährige Fußgängerin überrollte, stellte Guntram Münster vom Verein "geht-doch.wien" weiße "Schuhe der Erinnerung" auf. "Wir sind alle Fußgänger, es kann uns alle treffen", sagt er. "Ich habe das Gefühl, dass die Aktion gut ankam." Auch Ohmeyer berichtet von positivem Feedback: "Das Ghostbike weckt Interesse – das ist das Ziel". Trotzdem habe er einen großen Wunsch: "Ich hoffe, dass wir nicht so bald wieder eines aufstellen müssen."