Der KURIER übersiedelt in ein neues Haus
Von Georg Markus
Wenn man einem Wiener Taxilenker das Fahrziel "Lindengasse" nennt, kann der mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass man zum KURIER will. Seit seiner Gründung vor 60 Jahren ist die Redaktion der größten Qualitätszeitung des Landes in Wien-Neubau, dem siebenten Bezirk, zu Hause. Doch das ändert sich an diesem Wochenende, denn der KURIER übersiedelt nach 1190 Wien, Muthgasse 28, wobei der Bezirk beschlossen hat, die Adresse in Leopold-Ungar-Platz umzubenennen. Zeit für einen Rückblick auf die aufregenden und erfolgreichen Jahre in der Lindengasse.
Die erste Ausgabe des "Neuen KURIER" erschien am 18. Oktober 1954 mit dem "Blattaufmacher", dass die FPÖ-Vorgängerpartei VdU bei Landtagswahlen schwere Verluste erlitt; die "Kultur" meldete, dass der Pianist Friedrich Gulda ein Konzert vor fast leerem Haus gab; und der "Sport" berichtete über einen umstrittenen Elfmeter, der dem Sportklub zu einem 4:4 gegen die Austria verhalf.
Legendäre Redaktion
Eigentümer des "Neuen KURIER" war der Mühlenbesitzer Ludwig Polsterer, der als erstes Hans Dichand, den erfolgreichen Chefredakteur der Kleinen Zeitung, von Graz nach Wien holte. Und Dichand versammelte um sich eine legendäre Redaktionsmannschaft: Friedrich Torberg, Hans Weigel und Heimito von Doderer gestalteten die Kultur, Heribert Meisel wurde KURIER-Sportchef und Hugo Portisch Chef der Außenpolitik und Stellvertretender Chefredakteur.
Portisch arbeitete 1954 beim Österreichischen Informationsdienst in New York und begleitete Kanzler Raab auf seinem ersten Staatsbesuch durch die USA, "da bekam ich ein Telegramm von Hans Dichand", erinnert sich der Grandseigneur des österreichischen Journalismus, "in dem er mich bat, zum KURIER zu wechseln – und zwar mit den Worten: ,Schon die Türken fanden es lohnend, von weit herzukommen, um Wien zu erobern.’"
Portisch telegrafierte zurück: "Bin Türke. Komme."
Der "Neue KURIER" war gerade ein halbes Jahr alt, als er mit der Schlagzeile erschien, auf die das Land sehnsüchtig gewartet hatte: "Österreich wird frei", stand auf Seite 1 einer Sonderausgabe vom 14. April 1955, nachdem Österreichs Regierung bei Verhandlungen in Moskau den Durchbruch erzielt hatte.
Nun gab’s einen KURIER mit einem Exklusivbericht über den bevorstehenden Staatsvertrag, aber es gab damals keine Kolporteure, die abends die Zeitung an die Leser brachten. "Daraufhin ist die gesamte Redaktion durch die Stadt gelaufen und hat die Sonderausgabe um 50 Groschen pro Stück verkauft", erzählt Portisch. "Dichand und ich waren auf der Kärntner Straße im Einsatz."
Portisch wird Chef
Als Dichand ab 1958 die Kronenzeitung gründete, wurde Portisch neuer KURIER-Chef. Er war es, der 1964 gemeinsam mit anderen Chefredakteuren das Rundfunkvolksbegehren ins Leben rief, mit dem Ziel, die Macht der politischen Parteien aus Hörfunk und Fernsehen zu drängen. Es blieb mit 832.353 Unterschriften das bis heute erfolgreichste Volksbegehren Österreichs und wurde zum Auslöser einer umfassenden ORF-Reform.
"In die Schlacht gezogen" ist der KURIER auch im "Fall Borodajkewycz", jenes Hochschulprofessors, der in seinen Vorlesungen neonazistische und antisemitische Aussagen machte, wogegen Hugo Portisch in seinen Leitartikeln heftig anschrieb. Es kam 1965 zu einer Demonstration, bei der Borodajkewycz-Anhänger das "KURIER-Eck" in der Wiener Innenstadt stürmen wollten. Eine Gruppe von Widerstandskämpfern verteidigte das Gebäude, wobei der KZ-Überlebende Ernst Kirchweger von einem Rechtsradikalen niedergeschlagen wurde und an den Folgen der Verletzungen – als erstes politisches Todesopfer der Zweiten Republik – starb. Borodajkewycz wurde zwangspensioniert.
Amerikanischer KURIER
Wie der Name des 1954 gegründeten "Neuen KURIER" schon andeutet, hat es davor auch einen "alten" gegeben, eine Vorgänger-Zeitung. Sie hieß "Wiener KURIER" und wurde von der US-Besatzungsmacht herausgegeben – zum ersten Mal am 27. August 1945. Schon der "Wiener KURIER" war ein so wichtiges Medium, dass am 26. September 1947 im Land Aufregung herrschte, weil die Zeitung wegen Papiermangels nicht erscheinen konnte. Sogar Kanzler Figl rief in der Redaktion an, um sich darüber zu beklagen.
In der Ära Portisch nahm das Blatt einen weiteren Aufschwung und 1963 zog die Redaktion von der alten Adresse Seidengasse in das benachbarte KURIER-Hochhaus in der Lindengasse, das wir jetzt verlassen. 1972 verkaufte Polsterer den KURIER an eine Industriellengruppe, 1988 kam es unter Beteiligung der Raiffeisenbank und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) zur Gründung der Mediaprint.
Die alte Setzerei
Als ich im Sommer 1970 zum ersten Mal das Hochhaus in der Lindengasse 52 betrat, um den Portier etwas naiv "Entschuldigen Sie, wie wird man Journalist?" zu fragen, wurde ich in die Chronik-Redaktion geschickt, in der ich tatsächlich probeweise aufgenommen wurde – und diese Probezeit dauert jetzt schon (mit Unterbrechungen) 43 Jahre an. Damals wurde die Zeitung noch im Bleisatz hergestellt, Setzerei und Druckerei waren in der Seidengasse untergebracht.
Blättert man die weit mehr als 20.000 Ausgaben durch, die seit Gründung des unabhängigen KURIER 1954 in Druck gingen, erfährt man umfassend, was seither weltweit geschah: Über den Staatsvertrag und die tragischen Todesfälle John F. Kennedy, Marilyn Monroe und Prinzessin Diana, über die Mondlandung, den Fall der Mauer, alle kleinen und großen Koalitionen, über Österreichs EU-Beitritt, 31 Olympische Sommer- und Winterspiele, über "9/11", Kreisky und sieben Päpste... – Nur die Queen hieß damals wie heute: Elizabeth II.
Die Chefs im Kammerl
Zwölf Chefredakteure sind seit Gründung des "Neuen KURIER" für den Inhalt der Zeitung verantwortlich, Helmut Brandstätter führt uns in das moderne KURIER Medienhaus und somit in die Verschränkung von Print- und Online-Redaktion (siehe auch Kommentar rechts oben). Hugo Portisch lächelt, als wir über den Umzug in den großen Newsroom sprechen: "In der ersten Phase saßen Hans Dichand und ich mit einer Sekretärin in einem 2,5 x 5 Meter kleinen Kammerl, so haben wir angefangen."
Neu ist also ab sofort der Standort unserer Redaktion und anderer Abteilungen. Doch das Wichtigste an Ihrem KURIER bleibt unverändert: Die Unabhängigkeit und die Qualität dieser Zeitung.
Die Chefredakteure des KURIER:
Hans Dichand, 1954–1958 (gest. 2010)
Hugo Portisch, 1958–1967
Eberhard Strohal, 1967–1973 (gest. 1997)
Hubert Feichtlbauer,1973–1975
Gerd Bacher,1975
Karl Löbl, 1975–1979 (gest. 2014)
Gerd Leitgeb, 1979–1986 (gest. 2001)
Günther Wessig, 1986–1988
Franz Ferdinand Wolf, 1988–1993
Peter Rabl,1993–2005
Christoph Kotanko, 2005–2010
Helmut Brandstätter, seit 1. August 2010
Bilder: Der KURIER zieht nach Döbling
2200 Kartons, zusammengeklebt mit fast 11.000 Laufmeter Klebeband. Sie alle haben den Weg von der Lindengasse in den neuen Standort im 19. Bezirk gefunden. Die 350 Schreibtische sind aufgestellt, die Lounge-Möbel an ihren Plätzen. Auch die neun großen Bildschirme, wo künftig am Newsdesk die aktuellen Informationen zusammenlaufen, sind montiert. Vorbild waren Newsrooms in Europa und den USA. Michael Bloomberg saß vor seiner Zeit als New Yorker Bürgermeister in einem kleinen Glaskobel, von wo aus er die Arbeit seiner Finanzplattform bloomberg überblicken konnte.
Am Samstag hat sich die Tür in Wien-Neubau das letzte Mal hinter einem KURIER-Mitarbeiter geschlossen; ab Montag werden die Angestellten ihren Arbeitsplatz im neuen KURIER Medienhaus einnehmen. Damit der Ablauf in dem Gebäude der Raiffeisen Property Holding International reibungslos funktionieren kann, sind über das Osterwochenende noch ein Dutzend Menschen im Einsatz. Letzte Computer werden angeschlossen, das Datennetzwerk wird aufgebaut.
"Das zentrale Ziel des Umzugs ist eine bessere Kommunikation", sagt Geschäftsführer Thomas Kralinger. KURIER-Chefredakteur Helmut Brandstätter ergänzt: "Das Medienhaus KURIER fängt nun richtig zu arbeiten an."
Georg Markus beschreibt die Tradition des KURIER. Darauf aufbauend arbeiten wir an der Zukunft des Medienhauses KURIER. Und die wird in einem modernen Newsroom stattfinden, wo wir gleichzeitig an der Website kurier.at, an mobilen Applikationen, bewegten Bildern und an der Zeitung arbeiten.
Für viele Berufsgruppen ändert sich die Arbeitswelt, auch für uns Journalisten. In meinen 32 Jahren in der Branche gab es immer neue Herausforderungen, aber die digitale Welt hat viele Spielregeln geändert. Eines bleibt ewig gültig: Wir müssen fundierten, unabhängigen Journalismus für unsere Leser machen. Der aber muss heute auf allen Plattformen verfügbar sein. Motto: "Online immer und täglich eine Zeitung mit viel Hintergrund."
Ich danke allen, die diesen Newsroom geplant und gebaut haben, und freue mich riesig auf die Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen.