Chronik/Wien

Das Lächeln des Hundertjährigen

Luzia Krafts Blick ist skeptisch. Sie legt die Hand an die Schläfe. „Ich hab’ Angst, um dich“, sagt die 94-Jährige. Ihr Mann Rudolf ist 100 Jahre alt und demonstriert im Wohnzimmer Liegestütze. Als er sich wieder langsam aufrichtet und zurück auf das Sofa setzt, wirkt sie erleichtert. Und kann wieder lachen.

Vor wenigen Wochen feierte Rudolf Kraft seinen runden Geburtstag. Er ist einer von 370 Männern in Österreich, die 99 Jahre oder älter sind. Das hohe Alter sieht man dem Mann mit dem dichten weißen Haar und dem klaren Blick nicht an.

Der gebürtige Niederösterreicher war 37 Jahre lang Obmann der Sportunion Währing. Im Alter von 80 Jahren leitete er noch die Männergymnastik. „Wir haben viele lustige Sachen gemacht. Von Buglkraxn, Schubkarren fahren, bis hin zum Brunnen schöpfen.“ Wenn Rudolf Kraft von dieser Zeit erzählt, glänzen seine Augen. Mit den Händen gestikuliert er, deutet die Übungen an. Als würde er sie gleich selbst vorzeigen. Wie die Liegestütze.

Selbstbestimmt leben

Mit Ehefrau Luzia lebt Kraft im oberen Trakt eines großen Hauses am Fuße des Wilhelminenbergs. „Jahrgang 1913, so wie ich und das schönste Altersheim, das man sich vorstellen kann“, sagt der 100-Jährige über sein Zuhause. Sie führen hier ein selbstbestimmtes Leben. Unterstützt werden sie dabei von einer ihrer drei Töchter, die im gleichen Haus lebt. Obwohl Rudolf Kraft kaum noch sieht, kennt er jeden Winkel. Er streckt den Finger und zeigt vom Wohnzimmer aus alle Richtungen der Umgebung: Leopoldsberg, Kahlenberg und Hermannskogel.

Wenn er spricht, hält seine Frau inne. Ihr Mann erzählt die gemeinsame Geschichte. Kennengelernt hat er sie mit 22 Jahren. Er war Vorturner. Sie Gymnasiastin. „Wir waren später in der gleichen Volkstanzgruppe, da haben wir uns näher kennengelernt. Unsere Gruppe ist viel gewandert, durch den ganzen Wienerwald.“ Geheiratet wurde schließlich im Jahr 1941.

Rudolf Kraft, der sich vor dem Krieg als Drogist verdingte und in der Nachkriegszeit bei Austria Tabak anheuerte, kann sich noch gut an seine Jugend in den 1920er-Jahren erinnern. Wie ihnen der Schulwart in der Semperstraße 45 sonntags nach der Messe den Turnsaal öffnete. Oder sie draußen im Währinger Park um die Wette liefen und Faustball spielten. Wenn er davon erzählt, muss er lachen. Und sich ein paar Mal die Nase putzen.

Alle Inhalte anzeigen
Er und sein Bruder mussten damals auch in der elterlichen Greißlerei im 18. Bezirk helfen. „Erst wenn der Glasaufsatz in der Vitrine geputzt war, da waren immer die Würstel drinnen, durften wir turnen gehen.“ Beeindruckt von ein paar älteren Buben, kam er als Schüler in die christlich-deutsche Turnerschaft (CDTÖ). Wenige Jahre später erlebte er mit, wie SA-Mitglieder ihren Turnsaal zerstörten. „Unser Bezirkschef war ein netter, älterer Herr und sagte wir sollen uns nicht provozieren lassen.“

Schwere Zeit

1938 wurden alle Verbände der CDTÖ durch die NSDAP verboten. Kraft erzählt den Moment, wie es ihn erschrocken hat, als nach dem Anschluss die Nachbarn eine Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern aushängten. „Was mit den Juden geschah, war fürchterlich. Unser Hausarzt nebenan war Jude und wurde von ein paar Männern zum Straßenwaschen eingeteilt. Meine Mutter, eine größere, korpulente Dame, ist zu ihnen und hat sich beschwert.“ Der Arzt durfte dann weiterhin in seiner Praxis leben. „Die Mutti hat ihm oft Essen gebracht, andere Leute haben ihn auch unterstützt.“

Im Alter von 26 Jahren musste Rudolf Kraft zur Wehrmacht. Bei diesen Erinnerungen verliert der fröhliche Mann sein Lächeln. „Eine furchtbare Zeit, das kann man sich ja denken.“

1946 kehrte er aus englischer Gefangenschaft zurück. Er wurde Obmann der neu gegründeten Sportunion in Währing und bekam einen Arbeitsplatz bei Austria Tabak. Wie er das mit seinem Leben als Sportler vereinbaren konnte? „Ich habe nie viel geraucht, nur ab und zu. Jeder Mensch hat eine Freiheit. Ich will niemanden verurteilen.“

Seine Frau Luzia führte den Haushalt und übernahm in der Sportunion die Kinderturnkurse. Sie arbeitete auch ehrenamtlich als Kassawartin. Oder wie ihr Mann sagt: „Sie war über 40 Jahre lang Finanzministerin.“ Darüber muss die 94-Jährige lachen.

„In den 1960er-Jahren hatten wir über 700 ausübenden Mitglieder. Mehr als die Hälfte waren Jugendliche.“ Rudolf Kraft hörte nie auf aktiv zu sein. Bis heute: „Solange ich gehen kann, will ich mich bewegen. Vor dem Aufstehen muss ich Hände und Füße aktivieren, dann tu’ ich frühstücken und mache mich auf den Weg Richtung Wilhelminenberg.“ Zu Mittag macht er sein „Mützchen“ – das gehört dazu, wie der tägliche Spaziergang.

Seit zwei Wochen hat der Pensionist aber Schmerzen. Er zeigt auf seinen Fuß. „Das klingt komisch, aber die kleine Zehe tut weh. Das ist ein Stich, der geht bis in die Fingerspitzen.“ Sonst würde er viel schneller gehen können.

Dass er 100 Jahre alt ist, bezeichnet er als seltenes Glück. Teilen kann er es nur mit seiner Familie. Viele Freunde und Weggefährten sind gestorben. „Meine Generation ist weg. Der letzte Kollege meines Jahrgangs starb vor zwei Jahren.“

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwei Turn-Bewegungen. Jene mit arisch-deutscher Ideologie und jene mit sozialistischer Weltanschauung. 1914 wurde der „Reichsverband der Christlich-eutschen Turnerschaft Österreich“ gegründet. In der Zwischenkriegszeit nahmen Verbände wie der deutsche Turnerbund, die Arbeitersport- bewegung (heute ASKÖ) und die christlich- deutsche Turnerschaft einen militärischen Charakter an. Christlich-deutsche Turner und SA-Leute lieferten sich Auseinandersetzungen, es gab viele Verletzte. 1938 wurde der CDTÖ und alle anderen Verbände verboten. Erst 1945 erfolgte die Gründung eines neuen Verbands – daraus wurde die Sportunion.