Chronik/Wien

Auf säumige Betriebe rollt Klagsflut zu

Bevor Theresia Haidlmayr die Angebote im Schaufenster begutachtet, schaut sie sich den Eingangsbereich des Geschäfts an. Denn schon eine kleine Stufe bedeutet für die Rollstuhlfahrerin ohnehin meist Endstation. Ab 1. Jänner 2016 muss sie das nicht mehr einfach so hinnehmen. Denn mit diesem Tag endet die zehnjährige Übergangsfrist des Behindertengleichstellungsgesetzes. Dann müssen alle öffentlich zugänglichen Gebäude barrierefrei sein. Sind sie es nicht, können Menschen, die sich dadurch diskriminiert fühlen, klagen. Frau Haidlmayr hat das auch vor.

Sie will nicht jeden säumigen Unternehmer vor Gericht bringen, betont die ehemalige grüne Nationalrätin – denn da hätte sie viel zu tun. Immerhin betrifft das Gesetz Ämter und Supermärkte, Gastronomie, Hotellerie, Handel, Theater, Kinos, Frisöre usw. Aber zumindest diejenigen, die sich unkooperativ zeigen.

Ein Lokalaugenschein auf der Mariahilfer Straße zeigt, dass bei Weitem noch nicht alle Betriebe barrierefrei sind. Etwa 50 Prozent sind nur über Stufen erreichbar. Zehn Zentimeter Höhe, die Gehenden kaum auffallen, für Rollstuhl oder Kinderwagen aber zur Hürde werden.

Alle Inhalte anzeigen
Ein Ärgernis für mobilitätseingeschränkte Kunden sind oft auch Banken. Etwa, wenn Geldautomaten nur über Treppen zu erreichen sind. Dass es davor eine Klingel gibt, ändert für Rollstuhlfahrer Manfred Srb nichts an der Diskriminierung. Schließlich bräuchte er immer fremde Hilfe, um an sein Geld zu kommen.

"Viele offene Fragen"

Ab 1. Jänner ist die Barrierefreiheit zwar Pflicht, die Behörde kontrolliert aber nicht flächendeckend, ob das Gesetz befolgt wird. Das Ganze funktioniert viel mehr nach dem Motto "Wo ein Kläger, da ein Richter": Fühlt sich jemand mangels Barrierefreiheit diskriminiert, kann er den Unternehmer klagen.

Das Gericht prüft dann den Status-quo und evaluiert, ob behindertengerechte Maßnahmen – etwa die Schaffung eines barrierefreien Eingangs oder Behindertentoiletten – dem Betrieb finanziell zumutbar wären. Verliert der Unternehmer das Verfahren, muss er Schadenersatz zahlen.

Alle Inhalte anzeigen
In der Gastronomie ist die Verunsicherung deshalb groß. Sparten-Obmann Peter Dobcak von der Wiener Wirtschaftskammer vermisst "einheitliche Standards". Seiner Ansicht nach, wurde vom Gesetzgeber – sprich: vom Sozialministerium – nicht klar genug formuliert, welche Auflagen die Betriebe zu erfüllen haben. "Da gibt es noch viele offene Fragen."

Etliche Wirte bestätigen das. Robert Kardos, der auf der Dominikanerbastei ein bei Touristen beliebtes Restaurant führt, gehört zu den besorgten Gastronomen.

Alle Inhalte anzeigen
Da seine Toiletten im Keller nur über einen schmalen Treppenabgang zu erreichen sind und überdies zu klein für Rollstühle wären, fürchtet er teure Umbaumaßnahmen auf sich zukommen. "Ich müsste das gesamte Lokal neu konzipieren. Der Flair ginge verloren. Da kann ich zusperren."

Eigenverantwortung

Wie andere Berufskollegen erhofft er sich Aufklärung durch die Wirtschaftskammer. Dort bemüht man sich zwar bereits seit drei Jahren um die Bereitstellung der nötigen Informationen – durch ein eigenes Diversity-Referat, auf Veranstaltungen, auf der Homepage oder zuletzt durch eine in Kooperation mit dem Sozialministerium herausgegebene Broschüre.

Dobcak räumt aber ein, dass es mitunter schwierig sei, "die Aufmerksamkeit der Kollegen zu erlangen". Er appelliert an die Eigenverantwortung der Unternehmer.

Alle Inhalte anzeigen
Vorreiter in Sachen Barrierefreiheit sind "Planter’s Club" und "Restaurant Livingston" im ersten Bezirk. Für die behindertengerechte Ausstattung gab es vor Kurzem ein TÜV-Zertifikat. Das erste dieser Art in Wien.

www.wko.at
www.sozialministeriumservice.at