Als in Wien noch "Kotkönige" für die Fäkalienabfuhr zuständig waren
Dass der Alltag im Mittelalter in Wien – besonders was hygienische und medizinische Praktiken anbelangt – kein Zuckerschlecken war, ist nichts Neues. Ein neues Buch zeigt jetzt jedoch einen Einblick in die Lebensbedingungen vom 9. Jahrhundert bis zur ersten Wiener Türkenbelagerung 1529 in der Stadt. Die Historiker Peter Csendes und Ferdinand Opll, zeigen in dem Buch „Wien im Mittelalter“, dass die Wiener Lebenswirklichkeit im untersuchten Zeitraum für viele eine Plage war.
"Die mittelalterliche Stadt war schmutzig und stank. Denn die Fäkalienabfuhr war ein größeres Problem." So waren "die Latrinen - Secret oder Privet genannt - in der Regel im Hof, in der Nähe von Stall und Brunnen, vielfach aus Holz gezimmert", heißt es in einer Beschreibung der zum Himmel stinkenden Zustände.
"Kotkönige" waren nachts unterwegs
"Mitunter nutzten zwei Häuser eine Senkgrube. Die Räumung (...) wurde von den 'Nachtkönigen' oder 'Kotkönigen' durchgeführt. Fuhrleute brachten den Unrat vor die Stadt." Die "Kotkönige" zählten zu den "unehrlichen Berufen", hatten also wenig gesellschaftliches Prestige. Wie etwa auch die Hundsschlager, deren Aufgabe es war, herrenlose Hunde zu töten und zu beseitigen.
Csendes und Opll, beide ausgewiesene Experten der Wiener Stadtgeschichte, erzählen aber auch von immer wiederkehrenden Überschwemmungen, Feuersbrünsten und Seuchen, die sowohl die Stadtbevölkerung als auch die Bausubstanz immer wieder gehörig dezimieren.
So ist über das Jahr 1262 zu lesen: "Am 21. oder 28. April wütet in Wien erneut ein verheerender Stadtbrand, der kaum ein Zehntel des Stadtgebietes verschont. St. Stephan, die Minoritenkirche und Maria am Gestade werden zerstört, rings um das Schottenkloster, das verschont bleibt, geht vieles zugrunde." Die Seuchen waren oft hausgemacht: "Die Problematik der Hausbrunnen bestand im lehmigen Untergrund, der die Wasserqualität beeinträchtigte, und in der Nähe zu den Senkgruben, die in den Höfen angelegt waren."
Medizinische Praktiken
Bei den historischen Rückblicken faszinieren insbesondere eben jene auf Zeitzeugnissen basierenden Quellen, die einen Einblick in den höfischen, vor allem aber bürgerlichen oder einfach menschlichen Alltag geben. Zum Beispiel über die medizinischen Praktiken jener Zeit. Nehmen wird das Jahr 1295: Im November erkrankt Herzog Albrecht I. infolge einer Vergiftung schwer. Bei seiner Behandlung durch die Ärzte, die ihn kopfüber aufhängen, um das Gift aus dem Körper abfließen zu lassen, büßt er ein Auge ein.
Auch sonst waren die Sitten eher roh, wie ein anderes Zitat beweist: "Herzog Friedrich der Schöne lässt über die am Aufstand des Vorjahres (1309) beteiligten Wiener Bürger am 1. Februar strenges Gericht halten, und etliche werden gefoltert. Der Wiener Bürger Johannes, genannt der Stadlauer, wird am Schwanz eines Pferdes durch die Stadt geschleift und hernach gerädert. Andere, darunter Gottfried der Sohlenschneider und Wilhelm (wahrscheinlich dessen Bruder), verlieren Zunge und Augenlicht."
Holzbauten als Hausungen
Mit der "Wiener Gemütlichkeit" dürfte es jedenfalls nicht weit her gewesen ein. So richtig wohnlich war die Stadt lange Zeit nicht: "Waren es in ältester Zeit einzelne feste Höfe mit hölzernen Nebengebäuden, die ritterliche Gefolgsleute mit ihrem Gesinde bewohnten, so müssen wir uns die Häuser der wachsenden Bevölkerung noch lange als Holzbauten vorstellen. Und solche hat es in Wien bis weit in das 13. Jahrhundert gegeben. Das Mittelalter kannte keine Bauordnung im modernen Sinn. Doch musste von Anfang an darauf geachtet werden, das Feuer im Zaum zu halten, und schon das Stadtrechtsprivileg von 1221 bedrohte einen Hausbesitzer mit einer Strafzahlung, sollte das Feuer über sein Dach hinausschlagen."
Selbst wenn religiöse Festlichkeiten den Kalender und eine strenge Kirche das Leben bestimmte, war die Moral mitunter locker: "Bereits das Stadtrechtsprivileg von 1221 erwähnt Prostituierte. Von Bordellen hören wir im 14. Jahrhundert. So hatte sich eines eine Zeit lang in der Nähe des Minoritenklosters befunden, zwei bestanden vor dem Widmertor am Fraueneck in der Nähe des Wienflusses. (...) In den Bordellen führte eine Frauenmeisterin die Aufsicht über die 'freien Töchter'. Wie ein Privileg Kaiser Maximilians I. für das Büßerinnenhaus St. Hieronymus aus dem Jahr 1513 andeutet, gingen vielleicht nicht alle Prostituierten, die ein gelbes Tuch an der Achsel tragen mussten, ihrem Gewerbe im Frauenhaus nach."
Trotz Zuwanderung nur 30.000 Einwohner
Ein weiterer interessanter Aspekt des Buches ist, dass Wien damals ein Ort massiver Zuwanderung war. Dennoch bewegte sich die Einwohnerzahl vom 14. bis 16. Jahrhundert stets im Bereich zwischen 20.000 und 30.000. Dass lag an kriegerischen Auseinandersetzungen wie dem "Türkenjahr" 1529 und Seuchen wie der Pest oder der Cholera: "Die Lebenserwartung war nicht hoch, wobei allerdings das jeweilige soziale Umfeld in Rechnung zu stellen ist. Ähnliches galt für die Kindersterblichkeit. Hygienische Gegebenheiten sowie andere das Leben bedrohende Faktoren und eine gegenüber älteren Auffassungen gar nicht so hohe Kinderzahl - all das wirkte zusammen, dass die Bevölkerungszahlen nicht wirklich massiv anstiegen."
Summa Summarum führt das Buch deutlich vor Augen, warum es noch eine Weile dauerte, ehe dieser Ort an der Donau mit romantisierenden Liedtexten à la "Wien, Wien, nur du allein, sollst stets die Stadt meiner Träume sein" assoziiert werden konnte.